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Metal-Review: LONG DISTANCE CALLING – HOW DO YOU WANT TO LIVE? Metal-Review: LONG DISTANCE CALLING – HOW DO YOU WANT TO LIVE?
Auf ihrer neuen Scheibe „How Do You Want To Live?“ befassen sich LONG DISTANCE CALLING mit dem Thema der künstlichen Intelligenz und ihrer Beziehung... Metal-Review: LONG DISTANCE CALLING – HOW DO YOU WANT TO LIVE?

Auf ihrer neuen Scheibe „How Do You Want To Live?“ befassen sich LONG DISTANCE CALLING mit dem Thema der künstlichen Intelligenz und ihrer Beziehung zum Menschen. Musikalisch kreierten die Münsteraner hierzu den perfekten Soundtrack. LONG DISTANCE CALLING haben das seltene Talent durch ihre unglaublich ausdrucksstarke Musik mehr auszudrücken, als andere mit Texten. „How Do You Want To Live?” ist ein tiefgründiges Meisterwerk, das durch die erzeugten Gefühle und Atmosphären besticht, gleichzeitig mit elektronischen Klängen aber auch neue Wege beschreitet.  

LONG DISTANCE CALLING hatten mit ihrer letzten Scheibe „Boundless“ bereits bewiesen, dass sie die Titanen des deutschen ProgRock sind und, dass ihnen hier kaum jemand das Wasser reichen kann. Die darauf folgende „Seats and Sounds“ Tour und die grandiose BlueRay „Stummfilm“ zementierten den Status von LONG DISTANCE CALLING noch einmal. Wer aber gedacht hatte, dass LONG DISTANCE CALLING hier ihren Zenit erreicht hätten, wird von der siebten Schiebe der Münsteraner „How Do You Want To Live?“ eines Besseren belehrt.

Zunächst sei gesagt, dass LONG DISTANCE CALLING auf ihrem neuen Album mutig neue Wege beschreiten. Natürlich besitzt jeder einzelne Song auf „How Do You Want To Live?“ die für LONG DISTANCE CALLING typische musikalische und klangliche Tiefgründigkeit und das besondere Feingefühl für Melodien. Aber vor dem Hintergrund der Thematik des Albums gibt das Quartett elektronischen Klängen dieses Mal sehr viel mehr Raum. Dabei ist die Elektronik aber nicht irgendeine Spielerei, sondern wird von LONG DISTANCE CALLING in ihre Klangkonstrukte substantiell mit eingewoben. Drummer Janosch Rathmer erklärt dazu:  „Das Elektronische passt natürlich total gut zum konzeptionellen Überbau. Gleichzeitig ist es aber eine Elektronik, die wir selber bedienen und programmieren. Mit dem Ziel, dass auch diese elektronischen Elemente so homogen klingen wie unsere Instrumente. Immer noch menschlich statt maschinell. Ebenso weit weg von Industrial wie von Techno. Und ganz besonders von dieser heutzutage typischen, einförmigen Elektronikästhetik, die dadurch entsteht, dass alle Studios und Produzenten die gleichen Plug-Ins nutzen. Wir wollten da lieber etwas haben, das eigener, spezieller ist.“ So klingen die Songs trotz des elektronischen Sounds immer noch nach LONG DISTANCE CALLING. Wobei der Vater eines Bandmitglieds das neue Album mit den ebenso schmeichelhaften wie treffenden Worten beschrieb: „Das klingt wie Pink Floyd von heute.“ Diese Parallelen sind wirklich unüberhörbar, zeugen aber auch von dem enorm hohen Niveau auf dem sich LONG DISTANCE CALLING bewegen.

Thematisch ist „How Do You Want To Live?” eine Analyse des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine, zwischen künstlicher Intelligenz und humanistischen Grundwerten, zwischen technologischem Fortschritt und dem Rückschritt persönlicher Freiheit. Für die Band selber war es eine besondere Erfahrung, sich mit diesem Thema tiefgreifend zu beschäftigen. Bassist Jan Hoffmann beschrieb diese mit den Worten: „Je mehr man dazu liest, umso vielschichtiger und abgefahrener wird das alles.“

Die Gedanken der Band hinter der Thematik fasst er so zusammen: „Wir befinden uns aktuell in einer Situation, in der man kaum noch sagen kann, ob ein technischer Fortschritt eher zu einer Utopie oder einer Dystopie beiträgt. Dabei kann man beobachten, wie sich das alles exponentiell entwickelt. Das macht es für den einzelnen ja so schwer zu entscheiden, wie man mit alldem umgeht: Jeder, auch wir als Band, hat Bock auf Fortschritt und Zukunft, aber man sollte doch echt mal anfangen, genauer hinzuschauen, was man dabei zulässt und abgibt an persönlichen Rechten. Mir fehlt außerdem oft die Frage der Sinnhaftigkeit: Muss man jeden Fortschritt mitmachen, nur weil er auf einmal möglich ist? Und kann man mich dazu zu zwingen, all das ohne Not auch in mein Leben reinzulassen? Dabei zersetzen sich, wie man sehen kann, eben auch immer mehr kulturelle Standards, die bis vor kurzem noch als unverhandelbar galten – etwa, wie man miteinander umgeht und spricht. Nur wenige Jahre gezielter Hass in den Foren machen, so mein Eindruck, mittlerweile fast jede vernünftige Diskussion oder den sachlichen Austausch von Argumenten fast unmöglich, während Verschwörungstheorien jedweder Natur immer zahlreicher und populärer werden. Gerade jetzt in dieser neuen Phase einer weltweiten Pandemie schreitet das alles nur umso schneller voran. Und immer weniger wird sich dafür interessiert, woher diese Gedanken, Theorien und Algorithmen kommen, wer sie lanciert hat – und vor allem zu welchem Zweck. Selbst wenn man sich dafür sehr interessiert, genau betrachtet weiß doch mittlerweile keiner mehr, wie stark er bereits manipuliert wird in seinem Verhalten und seinen Überzeugungen – auch und gerade den politischen.“ Die Band beleuchtet aber alle Seiten der Entwicklung und sieht auch sehr viel Positives, wie Schlagzeuger Janosch erzählt: „Es gibt schließlich auch viele Entwicklungen dabei, die das Leben deutlich leichter und sicherer machen. Allein die positiven Einflüsse, die die globale Vernetzung auf den medizinischen Fortschritt ausübt und damit aktiv dabei hilft, Leben zu retten: Das ist doch verdammt großartig!“

Musikalisch setzen LONG DISTANCE CALLING die Thematik unglaublich intensiv um. Neben dem vermehrten Einsatz den elektronischen Sounds, wird auch sehr viel mit Sprachsamples gearbeitet, was dem Ganzen eine zusätzliche Dimension und Anreiz zum Nachdenken gibt. Direkt beim Opener „Curiosity (Part 1)“ stehen solche im Mittelpunkt. „Curiosity (Part 2)“ zeigt dann erst, was den Hörer erwartet: Der LONG DISTANCE CALLING-Kosmos aus Melodien, Klängen, Stimmungen, Atmosphären und Kopfkino, in das nun elektronische Klänge eingewoben wurden. „Hazard“ ist danach ein typischer LDC-Song mit weniger Elektronik – tiefgründig und mitreißend. Genau wie „Hazard“ wurde auch „Voices“ vorab als Video-Single veröffentlicht. Bei „Voices“ stehen anfangs elektronische Klänge im Vordergrund, die etwas an KRAFTWERK erinnern und etwas Futuristisches an sich haben. Im weiteren Verlauf erzeugt der Song dann eine enorme atmosphärische Sogwirkung und lässt den Hörer einfach nicht mehr los. Gleichzeitig steigert sich der Song dramaturgisch und wird zum Ende hin kraftvoll und intensiv. „Fail / Opportunity“ wirkt wie ein Soundexperiment, bei dem sich elektronische und Cello-Klänge vereinen. Beim energiegeladenen „Immunity“ dagegen wird es richtig rockig und deutlich härter. Ruhiger wird es dann wieder bei „Sharing Thoughts“, das anfangs von nachdenklichen Klavierklängen getragen wird und dann in den typischen LDC-Klangkosmos abtaucht, um sich schließlich emotional zu steigern. Mit dem rockigen „Beyond Your Limits“ folgt der einzige Song auf „How Do You Want To Live?” mit Gesang. Die Vocals übernahm Eric A. Pulverich von der Band Kyles Tolone, „auf den wir über unseren Produzenten Arne Neurand kamen“, so Jan Hoffmann. „Wir waren von seiner Stimme sofort fasziniert und wollten, anders als bei vergangenen Gastsängern, diesmal nur die Qualität der Stimme und die Melodien sprechen lassen statt irgendeines Namedroppings.“ Natürlich wird textlich das Oberthema abgegriffen. Bei „True / Negative“ servieren uns LDC dann wieder ein elektronisches Klangexperiment, das etwas düsteres, dystopisches  an sich hat. Mit „Ashes“ gibt es zum Abschluss eine schwebende Klangwelt, wie sie nur LONG DISTANCE CALLING zaubern können.

Fazit: Insgesamt servieren LONG DISTANCE CALLING mit ihrem neuen Album einen musikalische Leckerbissen, der so unglaublich viele Facetten hat, dass es einer Entdeckungsreise ähnelt. Auch wenn sie mit einer kleinen Überraschung in Form der elektronischen Klänge und Sprachsamples aufwarten, sind LDC so dermaßen vielseitig, kreativ und musikalisch auf einem so unglaublich hohen Niveau, dass „How Do You Want To Live?“ einfach genial ausgefallen ist und ganz eindeutig nach LONG DISTANCE CALLING klint. Bei allem Experimentieren schaffen LONG DISTANCE CALLING auch noch, den Songs so viel Gefühl, Melodie, Atmosphäre und schlicht und einfach Leben einzuhauchen, dass die Songs direkt funktionieren und den Hörer einfach nicht mehr loslassen. Gleichzeitig bieten LONG DISTANCE CALLING mit der Thematik der Verbindung zwischen dem Menschen und der künstlicher Intelligenz einen schier unerschöpflichen Fundus für Diskussionen, aber auch einen Ansatz zum Philosophieren und Nachdenken.

Anspieltipps: Curiosity (Part 2), Hazard, Sharing Thoughts

Tracks

  1. Curiosity (Part 1) (02:56)
  2. Curiosity (Part 2) (04:26)
  3. Hazard (06:08)
  4. Voices (07:54)
  5. Fail / Opportunity (03:07)
  6. Immunity (05:40)
  7. Sharing Thoughts (07:25)
  8. Beyond Your Limits (06:24)
  9. True / Negative (02:33)
  10. Ashes (06:12)

 

Total duration: 52:45

Line up:

David Jordan – Guitar

Florian Füntmann – Guitar

Janosch Rathmer – Drums

Jan Hoffmann – Bass

 

Review: Michael Glaeser

 

Veröffentlichungstermin: 26.06.2019

 

Label: InsideOut Music

 

Video auf Youtube von „Hazard“:

Lydia Dr. Polwin-Plass

Promovierte Journalistin und Texterin, spezialisiert auf die Themen Kultur, Wirtschaft, Marketing, Vertrieb, Bildung, Karriere, Arbeitsmarkt, Naturheilkunde und Alternativmedizin. Mehr über Dr. Lydia Polwin-Plass auf ihrer Website: http://www.text-und-journalismus.de