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Progressive Metal-Review: LIQUID TENSION EXPERIMENT 3 Progressive Metal-Review: LIQUID TENSION EXPERIMENT 3
LIQUID TENSION, die etablierte Genre-Größe des Progressive Metal rund um Dream Theater liefern ein neues Instrumentalalbum ab. Nach fast einem Vierteljahrhundert knüpft dieses dritte... Progressive Metal-Review: LIQUID TENSION EXPERIMENT 3

LIQUID TENSION EXPERIMENT, die etablierte Genre-Größe des Progressive Metal rund um Dream Theater liefern ein neues Instrumentalalbum ab. Nach fast einem Vierteljahrhundert knüpft dieses dritte Studioprojekt musikalisch nahtlos an seine beiden Vorgänger an und überrascht dabei mit einer speziellen Coverversion. Eine Weiterentwicklung musikalischer oder soundtechnischer Natur ist nicht gegeben, was zwar zu erwarten war, das Experiment im Namen aber doch ein wenig überflüssig erscheinen lässt. EXPERIMENT 3 macht aber trotzdem Spaß.

LIQUID TENSION EXPERIMENT zählen zur Crème de la Crème des Prog und sind vielbeschäftigt. Neben den Soloaktivitäten von Jordan Rudess und John Petrucci sowie den laufenden Engagements Mike Portnoys in diversen Supergroups formieren sich die kongenialen Musiker nach einer Studiopause von 22 Jahren ein drittes Mal in dieser Angelegenheit mit King Crimson- und Peter Gabriel-Bassist Tony Levin zum instrumentalen Bandprojekt Liquid Tension Experiment. Sie selbst sprechen von einer Reunion, obwohl sie ihre jüngste Zusammenkunft als ein sofortiges Anknüpfen an LTE 2 empfunden hatten.

Auch dieses Mal bewegt sich die Musik von LTE im allseits bekannten Dream Theater-Franchise und brettert in gewohnter Unisono-Manier mit Hypersonic gleich drauf los. Augenblicklich nehme ich diesen Opener als Peak Experience wahr – ein aus der Psychologie stammender Begriff, der dort in etwa für ein euphorisches Leben am Limit und im Flow steht. Die soundtechnische Analogie zu einem Audiopegel, der über weite Strecken am Anschlag klebt, erfreut mich dabei besonders. Gleichermaßen ist es auch adäquater Ausdruck für die ausgesuchte Fusion dieser All-Star-Combo oberhalb der fünffachen Schallgeschwindigkeit. Mit anderen Worten: Es fetzt! Etwas rockiger setzt sich das Spiel fort: Beating The Odds wechselt progressiv zwischen Happy Sound, schweren Riffs, gekonnter Melodieführung und ihrem solidem Solohandwerk. Hatte ich schnelle Unisono-Passagen schon erwähnt? Langeweile ist hier fehl am Platz.

An dritter Stelle geht Liquid Evolution es sehr viel ruhiger an. Das Stück hüllt sich in ein Ambiente, das man von alten Miami Vice-Soundtracks her kennt. Wahrscheinlich tragen die kalimba- bzw. steeldrumartigen Keyboardsounds dazu bei. Nahezu ab der Hälfte beginnt Petrucci über dieses Grundgerüst zu solieren – legato, langgezogen, unaufdringlich und vielleicht auch ein wenig zurückhaltend. Nach 3:22 Min ist dieser Zauber schnell vorbei – quasi nur ein kleines Interlude. Doch die beigemengte Ruhe tut der Dynamik des Albums gut.

The Passage of Time ist wieder purer DT-Stoff – bloß ohne Vocals. An dieser Stelle darf ich eine lapidare Bemerkung mit Augenzwinkern deponieren: Wie halten die eigentlich ihre vielen Tracks allesamt selbst noch auseinander? Aber Spaß beiseite, was soll man dazu sagen, außer „siehe oben“ vielleicht? Prog-Qualität seit immer eben.

Und dann tut sich plötzlich doch ein Gegenpol zum Altbekannten auf: Programmatisch knüpft Chris & Kevin’s Amazing Odyssey an deren […] Excellent Adventure von 1998 sowie an ihr […] Bogus Journey von 2007 an. Auch diesmal jammt sich nur das „Drum’n’Bass“-Duo Levin und Portnoy durch dieses kleine Abenteuer, womit sie wohl den eigenständigen Improvisationscharakter, der diesem spielerischen Mikrokonzept zu Grunde liegt, allmählich kultivieren wollen. Merkwürdiges Kratzen und Wischen schürft hörbar tiefe Schrunden in den Kontrabass und unsere Ohren, die irgendwann mit stampfenden Thunderdrums im 4/4-Beat verschmelzen. Mit der nötigen Portion Humor sind das kleine Soundexperimente zwischen Garagentor und Klangkunstgallerie.

Auffallend ist, was als nächstes kommt: Eine Coverversion – und mit ihr nichts Geringeres als George Gershwins Rhapsody in Blue. Komponiert vor fast 100 Jahren ist sie der Inbegriff der Fusion von Blues, Jazz und klassischer Sinfonik. LTE hatten sie bereits 2008 arrangiert, aber erst jetzt eingespielt. Nun ist das so eine Sache, wenn sich Rockmusiker klassischer Literatur annehmen und unweigerlich denkt man sofort an ELP (Emerson, Lake & Palmer), die sich im Lauf ihrer Karriere virtuos quer durch den klassischen Gemüsegarten pflügten, aber sich auf Works Volume I auch in eigenen orchestralen Werken versucht haben. Das ist jene Musik, von der Leonard Bernstein angeblich meinte, sie erinnere ihn an Grandma Moses – eine der Hauptvertreterinnen der Naiven Malerei. Gewiss ist hier eine bestimmte ästhetische Haltung vernehmbar, aber wie dem auch sei, LIQUID TENSION EXPERIMENT nähern sich der berühmten Rhapsodie mit enormer Spielfreude und interpretieren sie gekonnt progressiv, auch wenn ihr Arrangement auf Kosten der kleinen Besetzung und einer gewissen Heaviness auf satztechnische Feinheiten und lebendige klangliche Vielfalt des Originals verzichten muss. Wir wissen, Jordan wäre selbstverständlich dem solistischen Klavierpart gewachsen, er hat hier allerdings alle Hände voll zu tun, einen ganzen Orchesterapparat zu ersetzen. Die Vibes der 20er-Jahre vermag man dennoch wahrzunehmen … passend und gleichsam futuristisch (im Wortsinn des historischen Futurismus) irgendwie. Mit Shades of Hope folgt das zweite Duett (Rudess und Petrucci) und einmal mehr ein vom Grand Piano begleitetes balladeskes Gitarrensolo – extrem melodiös und einprägsam. Man kennt das von beiden Protagonisten auch aus anderswo. Das Intro des letzten Songs Key to the Imagination übernimmt kurz den gleichen Duktus, ehe die gesamte Band einsetzt und ein Finale in ihrer besten Eigenart hinlegt, welches nun mal alles beinhaltet, wofür diese Musiker, sowohl jeder für sich, als auch in diesem Bandgefüge stehen.

Auch wenn sie im Grunde nicht experimentieren, legen uns LIQUID TENSION EXPERIMENT alles in allem ein weiteres verspieltes Teil aus der DT-Ecke vor: gut durchhörbar und mit allem was erwartet wird – soundtechnisch wie eh und je, glasklar produziert und doch mit gewisser Rawness abgemischt. Trotz ihres Elektronik-Wizards Jordan Rudess klingen LTE auch 2021 nicht nach digitalem Zeitalter, sondern durch und durch nach virtuosem Rock. Mit ihrem Ausflug in die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts zementieren sie einmal mehr ihre Position, die diesen Instrumental Metal zur eigenen Form der Kunstmusik erhebt. Zukunftsorientiert ist anders, doch das spielt hier keine Rolle.

Dem Album liegt das Bonusmaterial A Night at the Improv bei, welches fünf ausgedehnte Tracks aus vier unterschiedlichen Jam-Mitschnitten wiedergibt. Im Gegensatz zur Albumproduktion klingen diese nicht so dicht und ganz und gar nicht nach dem DT-Universum. Bereits das jeweilige Ein- und Ausfaden der Titel deutet darauf hin, dass es sich um Auszüge und um keine durcharrangierte Produktion handelt. Charakterlich schimmern hier Jordans Soloprojekte mit ihrer Late-Night-Show-Atmo oder in etwa auch Stilderivate von Transatlantic und den Flying Colors durch, also von jenen Supergroups, bei denen Mike Portnoy u. a. sonst so trommelt.

Review: Christian Tschinkel

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Liquid Tension Experiment:

John Petrucci – guitars; Jordan Rudess – keyboards; Tony Levin – bass guitars (incl. Chapman Stick, e-double bass); Mike Portnoy – drums

 

Tracklist

CD 1

  1. Hypersonic
  2. Beating the Odds
  3. Liquid Evolution
  4. The Passage of Time
  5. Chris & Kevin’s Amazing Odyssey
  6. Rhapsody in Blue
  7. Shades of Hope
  8. Key to the Imagination

 

CD 2

  1. Blink of an Eye
  2. Solid Resolution Theory
  3. View from the Mountaintop
  4. Your Beard is good
  5. Ya Mon

 

YouTube-Links:

Hypersonic (official video)

https://www.youtube.com/watch?v=OSNVo6bZGUs

Beating the Odds (official video)

https://www.youtube.com/watch?v=RJWTT35GhQc&list=PL7BxKTjoOXUSTiDE71s4BTxfCiCVAvJF2

The Passage of Time (official video)

https://www.youtube.com/watch?v=jWP4JLUxiqY

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