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Interview mit Sharon den Adel – Frontfrau und kreativer Kopf von Within Temptation Interview mit Sharon den Adel – Frontfrau und kreativer Kopf von Within Temptation
Wir haben im Rahmen unserer Schreibarbeiten an unserem Buch "Wacken – Das perfekte Paralleluniversum. Was die Gesellschaft von Metalheads lernen kann" mit Sharon den... Interview mit Sharon den Adel – Frontfrau und kreativer Kopf von Within Temptation

Wir haben im Rahmen unserer Schreibarbeiten an unserem Buch „Wacken – Das perfekte Paralleluniversum. Was die Gesellschaft von Metalheads lernen kann“ mit Sharon den Adel über ihre neunen Projekte und die Liebenswürdigkeit der Metalheads gesprochen. 

Hallo Sharon. Vielen Dank, dass du dir Zeit nimmst.  Ihr habt gerade ein neues Video „The Purge“ veröffentlicht. Kannst du uns etwas darüber erzählen?

Sharon: Ja, wir haben es während der Corona-Zeit vor ein paar Wochen gedreht. Es war ganz anders als wir es sonst machten, weil jeder Abstand halten musste. Ich habe die Band lange nicht gesehen, aber ich war da, um beim Styling und allem möglichen zu helfen. Ich war also montags da und alle kamen getrennt voneinander, weil nicht zu viele Leute auf einmal da sein durften. Und alle haben Masken getragen. Das war schon irgendwie seltsam. Eine ungewohnte Art ein Video zu drehen. Das Video davor – das „Entertain You“-Video – hatten wir noch vor Corona gedreht. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Und ich war froh, alle von der Band mal wiederzusehen. Außer Stefan, der noch in Schweden war. Seine Video-Aufnahmen wurden dort gemacht. Aber es war schön, mit den anderen mal wieder in einem Raum zusammen zu sein. Das ist schon etwas Anderes als immer nur miteinander zu telefonieren.

Kannst Du uns etwas über die Message des Videos sagen?

Sharon: In „The Purge“ geht es um Selbstreflektion. Als Musiker suchst du immer nach Geschichten, die du erzählen kannst. Du bist ein Geschichtenerzähler. Du reflektierst dich auch selber mehr als andere, weil du ständig an Geschichten und Probleme denkst. Du denkst an Dinge, die in der Gesellschaft, in deinem eigenen Leben und deinen Freunden passieren. Und du analysierst das alles ständig. Du denkst ständig in Geschichten und wie du dich selber ausdrücken kannst. Das ist alles miteinander verbunden. Durch die Pandemie kam nun alles auf einmal zum Stehen. Ich habe viele Leute um mich herum mit der gleichen Reaktion gesehen, wenn man plötzlich viel Zeit hat.

Sie hatten plötzlich viel Zeit zur Selbstreflektion. Normalerweise führen besondere Ereignisse zur Selbstreflektion, wie eine Geburt oder der Tod eines Familienmitglieds oder wenn sie einen Burn Out haben. Dann nehmen sie sich die Zeit nachzudenken. Ich habe das Gefühl, dass durch die Pandemie viele Leute um mich herum plötzlich gemerkt haben, in was für einem Hamsterrad wir alle stecken. Das Leben nimmt einfach seinen Lauf und manchmal verliert man die Übersicht. Dann triffst du Entscheidungen und schaust irgendwann zurück auf diese Entscheidungen.

Und darum geht es in dem Song. Dass es immer Entscheidungen gibt, von denen du denkst, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt richtig waren und vielleicht auch immer noch richtig sind, aber auch einen großen Einfluss auf das Leben anderer haben. Es geht darum, den Schmerz, den man bei anderen hervorruft, zu erkennen. Manchmal geht das Leben einfach weiter, man trifft eine Entscheidung und wählt einen bestimmten Weg. Man findet seine Entscheidung richtig und möchte sich nicht mit anderen Aspekten dieser Entscheidung aufhalten. Wenn du dann aber erkennst, wie du das Leben anderer damit beeinflusst, kann das zu einer Belastung werden. Dann musst du etwas dagegen tun.

In „Purge“ geht es also um Entscheidungen, die du getroffen hast und darum, den Schmerz anzuerkennen, den du bei dir selbst und bei anderen hervorgerufen hast. Es geht um eine Art Säuberung der eigenen Seele. Darum geht es auch in dem Video. In Südamerika gibt es dieses Ritual, bei dem die etwas trinkst und dadurch in eine hypnotische Trance fällst. Du machst das mit deinen Freunden und dabei kommt vieles an die Oberfläche. Es wird gemacht, um seine Seele von der Belastung zu befreien und um Wiedergutmachung für die Entscheidungen, die man getroffen hat, zu leisten.

Arbeitet ihr gerade an einem neuen Album und denkst du, dass die Pandemie das Songwriting beeinflusst?

Sharon: Wir arbeiten gerade an neuem Material. Dazu hatten wir uns bereits entschlossen, bevor die neue Tour geplant wurde, die wir eigentlich dieses Jahr machen wollten. Durch die Absage der Tour haben wir natürlich mehr Zeit, um mehr Songs zu schreiben. Wir hatten eigentlich geplant, zunächst nur zwei Songs zu schreiben und diese während der Tour zu veröffentlichen. Wir hatten ja gerade erst eine große Tour gehabt und wir hatten das Gefühl, dass wir etwas Neues für die Tour mit EVANESCENCE rausbringen müssten, um nicht nur alte Songs zu spielen. Auch wenn unser aktuelles Album letztes Jahr rauskam. Aber da wir jetzt viel Zeit haben, schreiben wir umso mehr Songs. Vielleicht wird daraus auch ein neues Album. Aber was wir eigentlich schon vor der Pandemie beschlossen hatten, ist, dass wir zukünftig eher aktuell und zu bestimmten Zeitpunkten etwas veröffentlichen wollen, ohne ein Album zu haben.

Das haben wir bisher nicht gemacht und es mag sich etwas merkwürdig anfühlen. Der traditionelle Weg ist ja, dass man ein Album macht und vorab ein paar Singles veröffentlicht. Wir hatten aber das Gefühl, dass man heutzutage, bei dem großen Angebot an Musikplattformen, mal etwas Neues ausprobieren und für die Veröffentlichung andere Wege nutzen sollte.

Viele andere Musiker aus anderen Genres, wie Dance oder Pop-Musik, bringen oft einfach einen Song raus, ohne dass es ein Album dazu gibt. Was mir daran gefällt, ist, dass du einen Song veröffentlichen kannst, wenn du ein bestimmtes Gefühl mit einem Song ausdrücken möchtest und einen Drang verspürst, dich mitzuteilen. Es ist schade, wenn du erst zwei Jahre später alle daran teilhaben lassen kannst, erst wenn der Song auf einem Album veröffentlicht wird.

Jetzt sind wir mehr im Hier und Jetzt. Wir denken, dass andere dadurch einen besseren Zugang dazu bekommen, weil es im Moment ist. Ich denke auch, dass Musik, wie jede andere Kunst, auf vielen Dingen basiert, die drumherum passieren, und dass es da eine Beziehung gibt.

In einem anderen Interview hatte ich letztens über das „Mother Earth“-Album gesprochen. Da habe ich gesagt, dass das Schreiben von Musik durch andere Kunst beeinflusst wird. Zum Beispiel von Malerei oder Schauspielerei. Viele Themen, die dort aktuell sind, übernimmst du in deine Musik. Das hängt häufig zusammen. Auch die Atmosphäre oder der Sound werden beeinflusst. Als wir das „Mother Earth“-Album aufgenommen hatten, waren gerade „Herr der Ringe“ und „Braveheart“ und viele epische Sachen aktuell. Und so war auch die Musik episch. Das hing alles miteinander zusammen. Und das geht schon seit Jahrhunderten so. Die Musik, die wir jetzt machen, ist mehr eine Reflektion der Gesellschaft und was vielen Leuten derzeit passiert.

Wie kam euer aktuelles Album „Resist“ bei den Fans an und wie denkst du jetzt über das Album, nachdem du Zeit hattest darüber nachzudenken?

Sharon: Ich mag das Album wirklich. Ich bin wirklich glücklich darüber, wie es geworden ist. Es gibt natürlich immer Songs oder Teile von Songs, die du anders gemacht hättest, wenn du mehr Zeit gehabt hättest, daran zu arbeiten. Aber insgesamt bin ich wirklich sehr glücklich darüber.

Das Album handelte ja davon, was in das Gesellschaft passiert, wie Persönlichkeitsrechte verletzt und zum Beispiel Großkonzerne oder Regierungen wie in Polen, den Frauen das Abtreibungsrecht nehmen wollen.

Es geht um die Freiheit, zu tun, was man will und sein Leben auf möglichst demokratische Art zu leben. Das Album handelt davon, dass vieles in der Welt immer undemokratischer wird. Es gab viele soziale Aspekte, über die wir unseren Frust mal loswerden mussten. Wir wollen dabei nicht die Leute davon überzeugen, so zu denken, wie wir es tun. Aber ich liebe Diskussionen mit Fans und finde es gut, dass sie sich Gedanken über diese Dinge machen.

Das Album war für uns aber auch sehr wichtig, weil wir zum Beispiel die Produktion und die Themen der Songs geändert haben. Bei den vorherigen Alben ging es mehr um Geschichte und historische Ereignisse, auch um Filme und Bücher, die wir mögen.

Jetzt ist der Fokus auf dem wahren Leben und die Gesellschaft. Wir verspürten einfach eine immense Inspiration, weil gerade so viel passiert – Trump, China, Russland – es gibt so viele Länder. Ich habe immer schon so gedacht und umso befreiender ist es, darüber in den Songs zu schreiben und das als Inspiration zu nehmen.

Du sagst, dass du gerne mit Fans über solche Themen diskutierst. Denkst du, dass Metalheads eine besondere soziale Ader haben?

Sharon: Manchmal hast du ein sehr gutes Gespräch mit Fans über solche Themen, wobei sie sehr offen sind und dir viel über ihre Gedanken und ihr Leben erzählen. Sie erzählen auch über ihre Familien oder ihre Beziehungen. Wir haben auch viele homosexuelle Fans. Mit einigen von ihnen habe ich nach der Show gesprochen und sie erzählten von ihren Beziehungen und ihren Familien.

Viele sind da sehr offen. Auch mit vielen Journalisten habe ich bei Interviews gute Gespräche gehabt, weil sie sehr offen waren. Es geht hier auch um verschiedene Sichtweisen. Ich glaube nicht, dass ich alles weiß oder dass ich immer recht habe. Und ich bin immer bereit etwas von Leuten zu lernen, die eine andere Ansicht haben als ich. Ich habe das immer schon gemocht: ein offenes Gespräch, eine gute Diskussion, ohne dass der eine dem anderen sagt, was er zu tun oder zu denken hat. Ich finde es sehr wichtig, offen für alles zu sein.

Denkst du Metalheads sind besonders offen und tolerant?

Sharon: Nicht immer so, wie ich es gerne hätte. Wir sind ja selber ein Teil dieser Gruppe, aber diese Gruppe ist sehr stark unterteilt. Es gibt innerhalb der Szene so viele Segmente und Genres.

Was Metalheads aber alle haben, ist, dass sie selber bereits Teil einer nicht besonders großen Gruppe der Gesellschaft sind. Sie haben sich zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben dazu entschieden etwas zu mögen, das viele Leute nicht mögen. Das alleine sagt schon sehr viel über die Person aus.

Manchmal sind sie aber in ihrer eigenen Einstellung gefangen, wie auch andere Menschen. Das passiert mir selber auch. Ich muss mich immer wieder selber hinterfragen, um immer weiter zu denken und offen zu bleiben. Das ist aber kein großer Unterschied zu anderen. Der große Vorteil, den Metalheads haben, ist aber, dass es ihnen nichts ausmacht anders zu sein. Und ich denke, dass ist eine tolle Eigenschaft.

Denkst du, die Gesellschaft kann etwas von den Metalheads lernen?

Sharon: Ich denke, dass man das nicht über die ganze Gruppe sagen kann, weil es darin noch unterschiedliche Gruppen gibt. Für die Individuen trifft das aber zu. Ich denke aber, dass man von jedem etwas lernen kann, ob er nun ein Metalhead ist oder nicht. Und wie ich schon sagte: Wir sind anders. Wir haben uns bereits dazu entschieden, nicht zum Mainstream zu gehören. Wir haben es bereits für uns akzeptiert, anders zu sein und etwas anders zu machen. Und genau das ist eine ganz besondere Einstellung, die ich sehr an Metalheads schätze. Aber es geht mehr um das Individuum, weil jeder individuell ist.

Ihr habt schon mehrfach in Wacken gespielt. Was macht das W:O:A für dich besonders?

Sharon: Ich liebe es. Besonders das letzte Mal war richtig cool. Ich weiß nicht, manchmal passiert irgendwas oder es ist wie beim letzten Mal pure Magie. Es war ultramagisch. Vom Publikum kam eine so unglaubliche Energie. Ich liebe das. Man weiß ja nie, was man erwarten soll. Manchmal kommt so etwas einfach von selbst und manchmal musst du selber diese Magie in Gang bringen. Aber beim letzten Mal war die Magie schon da, bevor wir auf die Bühne kamen und sie wurde noch größer als wir spielten. Das war unglaublich.

Warst du schon mal privat in Wacken oder auf einem anderen Festival, ohne zu spielen?

Sharon: Dafür hatte ich eigentlich nie die Zeit. Seit ich alt genug war, um auf Konzerte zu gehen, bin ich selber in einer Band gewesen. Und dann habe ich auch immer selber gespielt. Als ich 17 oder 18 war, bin ich auf Festivals gegangen, aber danach war es für mich kaum noch möglich privat auf ein Festival zu gehen, weil ich immer mit einer Band gespielt habe.

Aber wir mischen und total gerne auf Festivals selber ins Publikum. Wie alle andern auch. Ich hoffe dann, nicht von zu vielen Leuten erkannt zu werden und die Musik mal aus einer anderen Sicht zu genießen. Aber die meisten Leute respektieren meine Privatsphäre und fragen nicht nach Autogrammen.

Wir möchten dir ein paar Worte geben und du sagst uns bitte, was dir als Erstes dazu einfällt.

Sharon:: Ok.

Familie

Sharon:Die Familie ist der Kern von allem. Sie gibt dir den Rückhalt. Deine Eltern geben dir eine Orientierungshilfe. Sie geben dir das Gefühl dazuzugehören und respektiert und geliebt zu werden. Und sie halten dir den Spiegel vor. Sie sagen dir, dass sie dich lieben, aber auch, dass es Punkte gibt, an denen man noch arbeiten muss. Es geht nicht ums Verhätscheln. Es geht darum, in den guten und in den schlechten Zeiten da zu sein.

Toleranz

Sharon: Toleranz ist der Beginn von allem. Von allen Dingen im Leben. Ohne Toleranz gäbe es keine Demokratie und keine positive Einstellung. Das ist unglaublich wichtig.

Hilfsbereitschaft

Sharon: Das ist notwendig. Wir alle brauchen irgendwann Hilfe. Einige Menschen brauchen etwas mehr Hilfe. Wir müssen uns gegenseitig helfen. Wir brauchen uns auch gegenseitig. Hilfsbereitschaft ist auch ein Ausdruck von Toleranz, einer sozialen Einstellung und Menschenliebe. Hilfsbereitschaft ist sehr wichtig. Genauso wichtig ist Unabhängigkeit. Hilfsbereitschaft kann auch bedeuten, jemanden unabhängig zu machen, dass er für sich selber sorgen kann und sein Leben selber im Griff hat, wenn man ihm die richtige Hilfestellung gibt.

Zusammengehörigkeit

Sharon: Die ist auch wichtig. So ähnlich wie Live-Musik. Das betrifft Familie und Freunde, aber auch zusammen auf Konzerte oder andere Events zu gehen. Die gemeinsame Verbundenheit ist wichtig.

Soziale Verpflichtungen

Sharon: Das ist wichtig, aber gar nicht so einfach. Wir alle leben in unserer eigenen Welt. Freunde und Familie sind manchmal genauso im Hamsterrad gefangen wie wir selbst. Das Leben ist sehr hektisch und sehr kurzfristig gedacht. Das wird dann zum Problem, wenn du deinen eigenen sozialen Verpflichtungen oder Versprechungen nicht mehr nachkommen kannst. Das ist einfach schwierig.

Hoffnung

Sharon: Ohne Hoffnung gibt es kein Licht (am Ende des Tunnels). Hoffnung ist das Wichtigste, an dem man sich festhalten kann. In jeder Situation. Wenn du keine Hoffnung hast, kommst du auch im Leben nicht weiter.

Inspiration

Sharon: Inspiration kann durch alles und jeden kommen. Unter einem Stein. Oder hinter den Cornflakes, wie Tori Amos mal sagte: „I found this song behind the cornflakes.“ („Cornflake Girl“). Inspiration kann einfach alles sein. Das war einfach eine tolle Idee, die sie (Tori Amos) da hatte. Sie war schon immer jemand, der in Metaphern sprach und ich habe davon sehr viel gelernt.

Man kann Inspirationen ganz unterschiedlich übersetzen. In Metaphern oder sehr direkt. Direktheit kann dabei sehr ehrlich und pur rüberkommen. Metaphern können dagegen viel poetischer sein.

Vorbild (Role Model)

Sharon: Für denjenigen, der ein Vorbild sein muss, ist es ein Segen und ein Fluch zugleich. Es ist ein Kompliment und eine Last. Wenn du ein Vorbild sein musst, sehen die Leute dich als 100% perfekt an. Das ist nicht gerade Rock´n´Roll. Auch wenn du alles versuchst, um so zu sein, hast du immer deine Fehler und Macken. Kein Vorbild ist perfekt. Das macht auch keinen Spaß und ist ganz schön anstrengend. Das ist wie bei der perfekten Schwiegertochter oder dem perfekten Schwiegersohn.

Wie siehst du Stand der Welt derzeit?

Sharon: Die Pandemie ist natürlich immer noch ein großes Problem für uns alle. Nicht nur gesundheitlich, sondern auch wirtschaftlich. Die Leute verlieren ihre Jobs oder können zum Beispiel nicht auftreten oder überhaupt arbeiten. Aber neben der Dunkelheit gibt es auch immer Licht.

Ich hoffe, dass wir auch viel daraus lernen. Weil die Welt auf einmal zum Stillstand gekommen ist, haben die Leute vielleicht auch endlich Zeit, mal über bestimmte Dinge nachzudenken. Zum Beispiel die Umweltprobleme. Oder, dass jeder in seinem Hamsterrad und seinem hektischen Leben gefangen war.

Wir wollen ja so viel tun wie möglich, weil wir erfolgreich sein wollen. Das ist ja auch irgendwie logisch. Aber manchmal vergessen wir einfach, was wirklich wichtig ist im Leben. Wir sollten nicht nur im Hier und Jetzt leben, sondern auch an die Zukunft denken und welche Welt wir unseren Kindern und Enkelkindern hinterlassen wollen.

Und uns sollte klar sein, dass es eine kleine Welt ist („It´s a small world after all.“) und alles miteinander verbunden ist. Wenn in Amerika ein Präsident eine Entscheidung fällt, betrifft das auch viele andere Länder.

Wir sind alle miteinander verbunden. Zunächst wirtschaftlich, aber das hat natürlich auch einen Einfluss auf das Privatleben von jedem. Das kann aber auch frustrierend sein. Bei der Politik habe ich das Gefühl, dass dies ein großer Spielplatz ist, auf dem die Rüpel und Tyrannen viel zu viel Macht haben. Solche Leute haben keine Empathie für das Große und Ganze.

Aber viele Menschen beginnen das zu erkennen. Und die beiden Gruppen stehen sich jetzt unversöhnlich gegenüber. Die Rüpel, die nur an sich denken, und die anderen, die das Große und Ganze im Blick haben.

So sehe ich den Stand der Welt zurzeit. Aber das ist eine Schwarz-Weiß-Darstellung. Ich könnte über dieses Thema ansonsten den ganzen Tag reden. Aber das lasse ich an dieser Stelle aus Zeitgründen lieber (lacht).

Was sind eure Pläne für die nächsten Monate? Ist die EVANESCENCE-Tour immer noch geplant?

Sharon: Ja, die ist immer noch für September nächsten Jahres geplant. Heute wurden ja die Impfungen in Großbritannien gestartet. Also hoffe ich, dass wir bis September einen Weg gefunden, dass wir die Tour endlich machen können. Ich hoffe, dass es auch für die Festivals eine Lösung geben wird. Dass sie vielleicht die Leute bitten, sich vorher impfen zu lassen.

Es wird ein sehr spannendes Jahr, besonders bezüglich der Lösungen, die sich die Festivals überlegen, damit es wieder losgehen kann. Unter welchen Bedingungen werden die Festivals stattfinden können? Oder eben auch nicht? Das wird noch spannend. Ich denke aber, dass sich jeder wünscht, wieder zur Normalität zurückzufinden und dass alle wieder zusammenkommen.

Wer ist dein größtes Idol?

Sharon:Ich habe eigentlich kein richtiges Idol mehr. Irgendwann bin ich da rausgewachsen. Aber als ich jünger war, hatte ich meine Idole. Zum Beispiel Janis Joplin oder Kurt Cobain. Besonders deren Perfomance war wichtig für mich. Oder auch Tori Amos. Mich hat beeindruckt, dass sie so leidenschaftlich und ausdrucksstark waren.

Zu mir haben Freunde immer gesagt, dass ich sehr emotional sei. Das stimmt auch, aber es wurde nicht immer als etwas Positives angesehen. Nicht, dass ich eine Heulsuse wäre, aber ich kann mich gut in die Gefühle anderer hineinversetzen und deren Höhen und Tiefs nachfühlen.

Als ich diese Performances sah, konnte ich deren Gefühle miterleben. Sie waren so leidenschaftlich und emotional und hatten keine Angst das zu zeigen. Sie sind so sehr aus sich herausgegangen, dass ich eine emotionale Verbundenheit fühlte. Ich liebe sie dafür, dass sie nicht nur so leidenschaftlich mit ihrer Musik waren, sondern, dass sie sich nicht gekümmert haben, was andere sagten. Sie haben sich einfach freien Lauf gelassen. Ich bewundere ihren Mut und ich liebe ihre Leidenschaft zur Musik. Das ist wirklich was Besonderes.

Vermisst du es selber live zu spielen?

Sharon: Sehr sogar. Das ist ein Weg, sich selber auszudrücken. So, wie ein Maler malen muss, um sich auszudrücken. Live zu spielen ist eine Ausdrucksform. Leider geht das zurzeit nicht, aber glücklicherweise können wir ja noch Musik schreiben.

Wie hältst du dich derzeit fit? Physisch und stimmlich?

Sharon: Ich habe noch nie so viel trainiert wie in den letzten Monaten. Ich habe für mich und Robert (Westerholt) einen Konditionstrainer engagiert, wobei Robert schon mal mit ihm gearbeitet hatte. Er hatte gefragt, warum ich nicht auch mal vorbeikomme. Ich dachte zunächst, dass mich das fertig machen würde und dass ich zu hart arbeiten müsste. Aber ich habe mich dann doch dazu durchgerungen und es hat mir richtig Spaß gemacht. Ich mache es jetzt zweimal pro Woche. Es bringt mir aber nicht nur physisch etwas, sondern man fühlt sich auch einfach besser danach.

Bezüglich meiner Stimme habe ich eigentlich gar nicht aufgehört zu singen. So halte ich meine Stimmbänder am besten in Form. Ansonsten ist das Beste viel draußen zu sein. Es hilft dir, dich zu fokussieren. Zum Beispiel, wenn du Songs schreibst. Auch das Konditionstraining hilft dir, weil du auf etwas Bestimmtes hinarbeiten kannst. Ich möchte schneller werden, damit ich von einem Rand der Bühne zum anderen sprinten kann, ohne außer Atem zu geraten. Wie bekomme ich das hin? Dafür sind die Übungen gut.

Denkst du, dass sozialkritische Texte etwas bewirken können?

Sharon: Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass alle Fans auf die Texte achten. Aber ein Video dazu zu drehen und in Interviews darüber zu reden, hilft schon mal. Aber wie bei jedem Künstler, wie einem Bildhauer, einem Maler oder einem Musiker, wirst du von deiner Umwelt inspiriert. Und die Gesellschaft heutzutage ist eine Inspiration für viele Künstler. Wir werden manchmal dafür kritisiert und Leute sagen, wir sollen einfach nur singen. Aber das würde uns auf ein Nichts reduzieren.

Ich denke, dass es für Musiker wichtig ist, ihre Gedanken und Ideen auszudrücken. Solange sie nicht versuchen dir deine eigenen Gedanken vorzuschreiben. Solange sie den Diskurs suchen und die Offenheit der Fans schätzen.

Mit „Resist“ und unserem Video „Entertain you“ wollten wir auf eine soziale Problematik hinweisen. Wir wollen aber nicht anderen vorschreiben, wie sie zu denken haben, sondern zum Nachdenken und zur Diskussion anregen.

Die Leute sollen sich des Problems bewusst werden. Aber das bringt dir auch viel Kritik ein. Wir wollen sehr offen sein und auch über soziale Unterschiede sprechen, wie zum Beispiel die Homosexuellen-Szene. Eine Fahne zu schwenken und nicht über das Thema zu reden, wäre da sehr seltsam. Wenn ich auf der Bühne stehe und jemand reicht mir eine Regenbogen-Fahne, dann möchte ich damit meine homosexuellen Freunde und die Person, die im Publikum ist, damit unterstützen. Ich finde es dann seltsam, wenn mir andere Leute sagen, dass ich zu diesem Thema keine Meinung haben sollte. Oder dass Leute schreiben, dass sie unsere Website „disliken“, weil wir diese Einstellung haben.

Aber das gehört zu mir als Gesamtpaket. Das ist, was bin eben ich, inklusive meiner Gedanken und meiner Einstellung. Daher ist es wichtig, dass die Leute offen sind und letztendlich meine Entscheidung respektieren. Dass ich darüber reden kann, so wie jeder andere, ist mein Grundrecht, so wie es für jeden gilt.

Glaubst du, dass die Metalsongs früher – z.B. in den 80ern – politischer waren und heute mehr in Richtung Party und Business gehen?

Sharon:Ich glaube, dass das eine Zeit lang tatsächlich so war. Aber seit einiger Zeit ändert sich das wieder. Ich glaube, die Leute erkennen, wie wichtig die Message ist. Auf der anderen Seite sind sie vielleicht auch ein bisschen ängstlich. In den 80ern hattest du viele politische Pop- und Rock-Bands, wie U2 zum Beispiel. Aber irgendwann gab es da einen Overkill. Immer nur über Probleme zu reden, wurde den Leuten irgendwann zu viel. Wenn du über Gesellschaftskritisches schreibst, sollte es nicht immer nur dasselbe Thema sein. Es ist besser, manchmal ein bestimmtes Thema herauszugreifen und das richtig rüber zu bringen. Wenn du immer nur über Politik oder soziale Probleme sprichst, langweilt das die Leute irgendwann. Das wäre natürlich sehr schade, weil man ja eine bestimmten Zweck damit verfolgt. Aber das funktioniert halt nicht immer. Es kommt auf die Kombination an. Mal schreibst du über etwas Persönliches und als nächstes sprichst du ein gesellschaftliches Problem an.

Was ist deine wichtigste Botschaft an unsere Leser?

Sharon: Ich hoffe, dass jeder gesund bleibt und zu unseren Shows kommt und unsere Musik genießt, wenn wir irgendwann mal wieder spielen dürfen. Und wenn ich etwas aus der Pandemie gelernt habe, ist es, dass man immer mit irgendwas beschäftigt sein muss und weiter positiv denken muss.

Ich wünsche jedem, dass er /sie etwas hat, mit dem er /sie sich den ganzen Tag beschäftigen kann, wenn es schon keine Live-Shows sind. Sport, am Haus arbeiten, Videos schauen, gute Musik hören. Man kann auch gute Musik beim Sporttreiben hören (lacht). So kann man Musik hören und gleichzeitig seinem Körper was Gutes tun (lacht).

Jeder sollte etwas finden, um sich zu beschäftigen und geistig fit zu bleiben. Das ist mein Rezept für die nächsten Tage und Wochen: Ich mache Sachen, an denen ich Spaß habe und arbeite an Sachen, die ich mag. Das sind vor allem Musik und Sport. Wichtig ist es trotz allem einen Tagesrhythmus zu finden.

Vielen Dank für das nette Interview.

Interview: Lydia Polwin-Plass und Michael Gläser

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Wacken – das perfekte Paralleluniversum

Lydia Dr. Polwin-Plass

Promovierte Journalistin und Texterin, spezialisiert auf die Themen Kultur, Wirtschaft, Marketing, Vertrieb, Bildung, Karriere, Arbeitsmarkt, Naturheilkunde und Alternativmedizin. Mehr über Dr. Lydia Polwin-Plass auf ihrer Website: http://www.text-und-journalismus.de