Interview mit Nils Christiansen – Initiator der Wacken Open Air Facebook-Gruppe
InterviewsNews 12. Oktober 2022 Lydia Dr. Polwin-Plass
Wir haben uns für unser Buch „Wacken – Das perfekte Paralleluniversum. Was die Gesellschaft von Metalheads lernen kann“ mit Nils Christiansen, Mitbegründer der Wacken Open Air Facebook-Gruppe unterhalten. Unter anderem erzählte er von der Entstehung der Gruppe und deren sozialen Projekten. Hier das komplette Interview.
Hi Nils, danke für deine Zeit. Du weißt ja, wir schreiben an einem Buch über die Liebenswürdigkeit der Metalheads und den sozialen Aspekt der Metalszene.
Nils: Jemand von der Polizei sagte bei der Pressekonferenz: „Sehr geehrte Damen und Herren von der Presse, ich weiß Sie wollen mal wieder Zahlen hören, was denn so alles schief gegangen sei, aber ich weiß nicht warum ich den Scheiß überhaupt noch mache, denn es ist ja eh wieder nichts passiert“.
Und genau das spiegelt den Spirit von dem Festival wider. Thomas und Holger verwenden inzwischen auch den Ausdruck „Spirit des Festivals“
Ich würde meine Tochter wenn sie zwölf ist, dort jederzeit alleine durch die Gegend laufen lassen und hätte überhaupt keine Bedenken.
Man passt einfach aufeinander auf und hilft sich gegenseitig. Zum Beispiel lag mal ein Betrunkener im Infield auf der Wiese, der eingeschlafen war. Als das Konzert vorbei war und tausende Menschen auf ihn zumarschierten, dauerte es nicht lange, bis sich irgend jemand darum gekümmert hat, dass der Mann außer Gefahr gebracht war, damit keiner auf ihn drauftritt. Innerhalb kürzester Zeit waren acht Leute damit beschäftigt, den Betrunkenen vor der herannahenden Menge zu retten. Und das war so die Initialbegegnung mit dem Festival für mich.
Wie ist denn die Facebook Gruppe entstanden?
Nils: Die Fangruppe für‘s Wacken Open Air auf Facebook ist durch eine Zusammenkunft mit Freunden und ein wenig zu viel Kümmelkorn entstanden (lacht). Während wir zusammensaßen, stellten wir fest, dass es auf Facebook noch gar keine Wacken Gruppe und nicht mal eine Seite gab. Und mit der Gründung haben wir sozusagen die Büchse der Pandora aufgemacht. Schnell wurden sehr viele Fragen zu organisatorischen Themen gestellt und es zeigte sich, dass Leute nach Wacken fahren, denen man es gar nicht zugetraut hätte. Und so organisierten sich auch Leute, um miteinander nach Wacken zu fahren. Wir haben die Seite mit Informationen, die wir direkt der Wacken Seite entnommen hatten, gefüttert. Die Sache ist relativ schnell gewachsen und daraus ist dann die eigentliche Wacken Fangruppe entstanden. Mittlerweile mit 36.000 Mitgliedern. Die Büchse der Pandora deswegen, weil das Ganze eine Eigendynamik angenommen hat. Normalerweise bin ich nicht so der Frontmensch. Ich stehe auch nicht gerne auf einer Bühne oder im Mittelpunkt.
Wir sind jetzt sieben Administratoren, die sich um verschiedene Belange kümmern.
Seit Corona haben wir einen live Stammtisch auf Twitch TV, den Chaos Stammtisch, wo wir uns jeden Samstag von 21h bis open End. treffen, manchmal auch Bands einladen. Darum kümmert sich Martin aufopfernd. Wenn man ein Profil bei Twitch hat kann man sich auch am Chat beteiligen. Und nur diese Leute kann man dann auch namentlich sehen. Passive Zuseher gibt es dann natürlich viele mehr.
Selbstverständlich gibt es auch Running Gags, Sprüche, die wir zu bestimmten Situationen flachwitzmäßig parat haben. Nach Interviews, die wir mit Musikern machen, spielen wir dann meistens ein Spiel: das nennt sich Full Metal Bingo. Da verlosen wir dann alle möglichen Sachen, die uns zur Verfügung gestellt werden. Zum Beispiel kamen kürzlich aus irgendwelchen Ecken des Metal Universums Produkte von Eis.de. Bei der Verlosung dieser Dinge hatten wir besonders viel Spaß. Eine unserer Administratorinnen hat ihre „Ruf mich an“ Stimme aufgesetzt und die Sachen unheimlich lustig präsentiert.
Nächsten Samstag haben wir dann unser Jubiläum, da wir diesen Livestream das 50. Mal machen. Meist kommen 6-700 Leute. Auf Facebook posten wir dann Links in die Gruppe, für Leute, die den Stammtisch noch nicht kennen.
Die Gruppe ist für mich ein sehr leidenschaftliches Hobby, mit dem ich mich gerne beschäftige.
Kannst du uns bitte ein wenig über euer soziales Engagement erzählen?
Nils: Ja, gerne, als wir circa 8000 Leute waren, wollten wir endlich mal ein Gruppentreffen machen. Ich weiß nicht mehr genau in welchem Jahr es war, aber ich glaube es war 2010 oder 2011. Beim ersten Gruppentreffen waren bereits 20-30 Leute. Mittlerweile sind wir bei unserem (Gruppen)Treffen 1000 Leute. Und das brachte uns auf die Idee, diese Reichweite auch für etwas Positives bzw. Soziales zu nutzen.
Erstens steckt das in der Natur der Metalheads schon drin: Man passt aufeinander auf, hilft wo man kann. Zudem hatte ich die Idee, dem Dorf einmal etwas zurückzugeben. Wir haben zum Beispiel kleine Papierbeutelchen mit Schokoladen im Dorf verteilt. Ein Gruppenmitglied hatte darüber hinaus die Idee, dem Waldkindergarten in Wacken, dem irgendwelche asoziale Jugendliche mal nachts den Baum, an dem die Schaukel hing, umgeschnitten hatten, eine Freude zu machen. Sowas geht gar nicht und ist das Allerletzte, Kindern etwas wegzunehmen. Das ist einfach widerlich! Und das war uns zu Ohren gekommen und so versuchten wir ein wenig Kohle zusammen zu bekommen, um den Kindern irgendetwas Schönes zu kaufen. Eine Sandkiste oder sonst irgendetwas Nettes. Und mit meiner damaligen Frau habe ich dann ein Spendenkonto eröffnet. Da sie besser mit Geld umgehen konnte, hat sie sich um die Finanzverwaltung gekümmert.
Wir haben dann auch noch einige Sachen versteigert, wie zum Beispiel die Orgel von Mambo Kurt, ein VIP Upgrade war auch noch dabei und Vieles mehr. Die Aktion kam so gut an, dass wir am Ende ca. 2500 € beisammen hatten. Mit dem Geld haben wir den Kindern eine ganz tolle integrative Schaukel hinstellen lassen. Das war zwar ein bisschen organisatorischer Aufwand, denn in den Wald darf man ohne Genehmigung nicht einfach etwas hinstellen. Aber letztlich haben wir es geschafft und die spezielle Baugenehmigung dafür erhalten. Die Aktion kam natürlich im Dorf sehr gut an.
Daran hatte ich dann gesehen, dass man sehr viel machen kann, wenn man die entsprechende Plattform dafür hat.
So haben wir dann auch noch weitere Aktionen gestartet. Zum Beispiel haben wir für DKMS eine Tombola gemacht, wo man ein Los ziehen konnte für fünf Euro oder sich auch typisieren lassen konnte. Je nachdem, ob man für die Typisierung geeignet ist oder nicht. Wer für die Typisierung nicht geeignet ist, spendet.
Als nächstes haben wir dann angefangen Devotionalien von Bands oder ICS in Live Auktionen zu versteigern. Aus dem Erlös haben wir dann Tickets für das W:O:A gekauft und sie dann an Metalheads gespendet, die sich den Festival-Besuch niemals hätten leisten können. Zuzugeben, dass man kein Geld hat, fällt den meisten schwer. Also machen wir es so, dass man einen Freund oder eine Freundin, der irgendetwas Dummes passiert ist, nominieren kann. Der Tipp wird ohne Namensangabe der Betroffenen an die E-Mail-Adresse geschickt. Je nachdem wie viele Tickets zur Verfügung stehen, wird dann in einer Jury entschieden, wer die Tickets bekommt. Da hat auch Jasper Ahrendt von ICS als Kontrollorgan mitgewirkt, damit die Tickets nicht an Freunde vergeben werden. Zum Ticket bekamen die Begünstigten auch noch die gleiche Summe an Taschengeld, damit sie sich auf dem Festival auch was leisten konnten. Gleich beim ersten Mal konnten wir 16 Tickets verschenken. 2019 waren es dann sogar schon 31 Tickets inklusive Taschengeld, mit dem sich die Begünstigten ein paar sorgenfreie Tage machen und sich auch noch ein Festivalpaket inklusive Schlafsack, Zelt, Unterlage leisten zu konnten. Manchmal sind unglaublich traurige Geschichten dabei. Geschichten, die einen so berühren, dass man heulen könnte. Das Leben kann manchmal extrem grausam sein.
Besonders tragisch sind die Geschichten, in denen es um den letzten Wunsch des Lebens geht.
Auch diesen letzten Wunsch konnten wir einem Metalhead erfüllen.
Eine etwas schönere Geschichte: Einer jungen Mutter, die ihren Job verloren hatte, von ihrem Ex wegmusste, der sie geschlagen hatte und bei einer Freundin Zuflucht gefunden hatte, haben wir auch ein Ticket geschenkt. Auf dem Festival hat sie einen neuen Freund kennen gelernt, ist mit ihm zusammengezogen, inzwischen verheiratet und hat sogar mit ihm ein zweites Kind bekommen. Für sie war das Festival eine Initialzündung, um wieder auf die Beine zu kommen.
Während Corona haben wir jetzt einen Wodka „Holy Ground the Wacken Wodka“ kreiert. Ich bin ja von Beruf Vertriebler und baue prinzipiell gerne Stories um meine Produkte herum. Und so suchten wir nach irgend etwas Speziellem für unseren Wodka. Und so kam uns die Idee Heu vom Holy Ground in den Wodka zu geben. Und so sind wir montags mit einem Rasenmäher bewaffnet los, um in der Kuhle, wo das erste Festival stattgefunden hatte, 20 kg Gras für unser Heu zu mähen. Das haben wir dann zur Destillerie gebracht. Und dann kamen wir auch auf die Idee, der ersten Produktion den Untertitel „the Mower Edition“ (Rasenmäher Edition) zu verleihen.
D.h. da ist jetzt tatsächlich in der Maische, also in der Vorstufe zur Destillation, Heu vom Holy Ground drin, von der Kuhle, wo das aller erste Wacken open Air stattgefunden hat.
Lydias Kommentar: also auch für Kühe geeignet (lacht)
Nils: (Lacht) Das Gute ist, dass auf dieser Fläche keine Kühe weiden, da sie keinen Bauern, sondern dem Landkreis gehört. Witzig ist, dass einige die Idee hatten, das Heu vom Infield zu holen. Daraufhin fragte ich: Leute, wart ihr schon mal auf einem Wacken Open Air und kennt ihr den Geruch des Rasens im Infield nach drei Tagen Festival? Und es hat auch einen Grund, warum man sagt, dass man die Zäune in Wacken nur oben anfassen soll (lacht).
Die Flasche kostet 29,90 und ist gelasert – nicht gedruckt. Der Schriftzug ist also regelrecht eingebrannt in die Flasche. Sieht also sehr hochwertig aus, ich finde sie rasant geil. Es hat doch einige Zeit gedauert, bis wir das Design fertig hatten. Zwei Euro pro Flasche gehen an das Spendenkonto. Und die Auflage ist limitiert auf 5000 Flaschen. Das wären dann 10.000 €, die wir an zwei Leute aus der Szene á 5000 spenden wollen, die es durch Corona ziemlich doof erwischt hat. Zum Beispiel einem Bühnenarbeiter. Das Ganze läuft nach dem gleichen Prinzip ab, Leute dürfen vorgeschlagen werden. Und diejenigen, die nominieren, dürfen dann auch gemeinsam abstimmen, wer das Geld bekommen soll. Vier Wochen lang wollen wir jetzt alle zusammen, bis die Leute das Wort Wodka nicht mehr hören können (lacht).
Innerhalb der Gruppe kann ich auch besonders gut beobachten, wie sehr sich die Leute untereinander unterstützen. Egal ob jemand in Not ist, oder nur eine Doktorarbeit über das Paarungsverhalten von schwarz gekleideten Menschen schreibt, es wird sofort geholfen. Eigentlich gibt es keine Anfrage, die nicht mindestens 5-6 Antworten bekommt.
Auch ich selbst habe schon die Erfahrung gemacht: ich war kurzfristig arbeitslos nach der Trennung von meiner vorigen Frau und bin nicht nur ein Wochenend-Papa, sondern kümmere mich wirklich um meine Kinder. Und irgendwann fiel meine Geschirrspülmaschine aus. So habe ich in die Gruppe geschrieben, ob sich nicht jemand mit Geschirrspülmaschinen auskenne und sie sich mal ansehen könnte. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich wieder eine voll funktionstüchtige Geschirrspülmaschine. Das ist wunderbar und zieht sich durch alle Teilbereiche.
Auch mit den Bands durch den Stammtisch, sind wir durch Corona noch mal enger zusammengerückt. Auch Fans und Künstler sind noch enger zusammengerückt. Wir haben zwar jetzt nicht die ganz großen in unseren Interviews wie Slipknot oder so, aber so mittelgroße Bands haben wir schon. Das macht unglaublich viel Spaß.
Ich glaube manchmal, wir Metalheads sind christlicher als der Papst. Habe mich auch noch nie bei irgend jemanden aus der Metalszene nicht willkommen gefühlt. In anderen Kulturszenen oder anderen Gesellschaftsbereichen ist das ganz anders.
Was ich auch extrem toll finde, ist die Kreativität, die manche Camp Crews an den Tag legen. Wie viel neidlosen Respekt sie von anderen Leuten bekommen. Da wird nicht an den liebevoll mit Blumenkistchen gestalteten Zaun gepinkelt. Da stehen staunend Leute davor, machen Fotos und drücken ihre Bewunderung aus und spendieren vielleicht auch noch ein Bierchen als Belohnung. Das alles sind wunderschöne Facetten des Miteinanders.
Die Gruppe der Metalheeads sind aber auch nur ein Querschnitt der Gesellschaft. Deshalb werden auch Themen, die eventuell die Community spalten könnten, einfach in der Facebookgruppe nicht angesprochen. Also kein Corona, keine Politik und keine Religion. Denn diese Themen bieten durchaus Streitpotenzial. So ehrlich muss man schon sein. Das ist natürlich ganz allgemein ein Problem von Social Media Plattformen. Auf dem Festival ist das wieder ganz anders. Denn da ist sowieso wieder alles Friede Freude Eierkuchen. Nehmen sich wieder alle in die Arme und freuen sich über Bier und laute Musik.
Wie war für dich das erste Mal Wacken?
Nils: Erwischt hat es mich tatsächlich ein Jahr bevor ich das erste Mal nach Wacken gefahren bin. Das war auf einem Dynamo Festival, wo ich das erste Mal mit Metalheads in Berührung gekommen bin.
Ein Jahr vorher bin ich an dem Riesenstau vorbei gefahren, der gerade nach Wacken führte. Das war noch bevor sie die Verkehrsführung optimiert hatten. Da standen doch tatsächlich Leute auf der rechten Spur und haben auf dem Standstreifen den Grill ausgepackt. Da dachte ich mir: alter Schwede, das ist ja ein lustiger Haufen Menschen. Da will ich auch mal hin. Ein halbes Jahr später habe ich zu Weihnachten das Ticket für das Festival bekommen. Da hat es noch 120 € gekostet. Dann bin ich mit zwei Freunden hochgefahren und das war’s natürlich. Es war ein unglaublich tolles Gefühl in der Wiese mit einem frisch gezapften Bier unter der Sonne zu sitzen und zu wissen, jetzt sind wir hier, in Wacken.
Wir haben da viele Leute kennengelernt, die wir jedes Jahr wieder treffen. Darunter viele Italiener. Ein Grund, weswegen ich jedes Jahr hinfahre, ist es um alte Bekannte, die man während des Jahres niemals sieht, wieder zu treffen. Ich würde sogar sagen das ist der Hauptgrund. Für mich ist die Vorfreude ein bisschen wie für ein Schulkind der Tag vor den großen Ferien. Für mich bedeutet es auch eine Woche Freiheit. Dort ist es völlig egal, ob ein Sechzehnjähriger, oder ein 72-jähriger neben einem „Odin“ schreit, oder sonst irgend etwas Schräges. Dort kann man einfach mal alle Gehirnzellen durchpusten und richtig durchatmen. Und dort ist es völlig egal, ob man männlich oder weiblich ist, Männer oder Frauen liebt, an Gott glaubt oder nicht, oder eine sehr innige Beziehung zu einer Feuerqualle eingegangen ist (lacht), welchen Beruf du hast und wieviel du verdienst, ob du deine Sätze „veralterdiggerst“ oder als Medien-Anwalt wohl formulierte Sätze von dir gibst und Objekt und Prädikat an den dafür vorgesehenen Positionen platzierst. Man erlebt hier einfach auch viel und man entdeckt Fähigkeiten an Menschen, denen man das gar nicht zugetraut hätte.
Zum Beispiel stand mal ein Typ vor mir, mit einem gehörnten Motorradhelm, einem unheimlich schweren Ledermantel und einer Plastiksense in der Hand, der perfekt den Tod aus dem Monolog des Jedermann zitierte.
Den Hamburger Jedermann kannte ich ja bereits, aber er zitierte in tiefstem Schwäbisch, was ausgesprochen irritierend ist. Jedermann auf Schwäbisch ist ungefähr wie Asterix und Obelix auf Plattdeutsch (lacht). Top intoniert und wunderbar vorgetragen – ein wenig verstörend aber sehr originell.
Wir haben ihn dann gefragt, ob er Schauspieler ist und er sagte: „Ach ne, ich bin der Gerd ich tu beim Daimler als Dreher schaffe“ (lacht)
Oder ich habe einen Israeli und einen Kuwaiter mit ihren Flaggen Arm in Arm übers Festivalgelände hüpfen gesehen. Normalerweise bekriegen sich diese Menschen ja. Aber die Metalszene vereint sie, über alle Barrieren hinweg.
Und was mir auch sehr gut gefällt, ist, dass das Wacken Open Air auch die Kirche mit einbezieht. Als atheistischer Black Metal Fan muss man ja nicht hinein gehen. Aber es ist schön, dass es auch hier ein Miteinander gibt und außerdem ist die Akustik geil im Kirchengebäude.
Wann und wie hast du Holger und THOMAS kennen gelernt?
Nils: Eigentlich auf den Metal Days. Irgendwann haben sie angefangen uns als Facebook-Gruppe ins Festival und in die Kommunikation miteinzubeziehen. Denn wir kommen sozusagen als Fansprecher natürlich ganz anders an die Fans ran als sie. Denn wir sind ja immer noch einer von ihnen – ich bin einer von den Fans und nicht einer von ICS.
Gibt es irgendwelche Projekte, die du in naher Zukunft gerne durchziehen würdest?
Nils: Ja, ein Fan-Festival. Aber davon muss ich THOMAS und Holger noch überzeugen. Die Leute sind schon ausgehungert und wollen unbedingt wieder ein Festival. Und ich möchte Thomas und Holger davon überzeugen, dass wir mit der Impfstrategie, wenn wir mal eine Impfquote von 60 % erreicht haben, eventuell im Herbst ein Fan-Festival auf dem Holy Ground machen könnten. Wie das Winter Wacken, aber in Kooperation zwischen Fans und ICS. Ein einfaches kleines überschaubares Festival mit 8-10.000 Leuten – back to the Roots. Mit ein bis zwei Bühnen, ein paar Food Trucks. Die Infrastruktur müsste halt dann ICS bieten. Wir würden dort gerne einen Stand für die Kinderkrebshilfe hinstellen und einen Friseur, der gegen Spenden für die Kinderkrebshilfe den Metalheads die Haare macht. Und die bekommen dann einen Trinkgutschein für das Festival.
Ich habe auch grad 20 cm meiner Haare geopfert, weil mein Friseur um die Ecke mich mehr oder weniger dazu genötigt hat (lacht).
Was kann denn, deiner Meinung nach, die Welt von den Metalheads lernen?
Nils: Gemeinschaft und Verständnis füreinander. Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung und jeder darf diese auch äußern und sie vertreten, aber nicht jeder hat das Recht auf seine eigenen Fakten. Denn eigene Fakten zu haben, ist im Moment ein großes gesamtgesellschaftliches Problem. Und auch die Unfähigkeit miteinander zu reden und aufzunehmen was die anderen sagen und nicht stur auf seiner eigenen Position zu beharren, sondern zuzuhören und über das was der andere gesagt hat, auch nachzudenken. Und auch immer wieder die eigene Meinung zu hinterfragen.
Man kann das zwar jetzt nicht verallgemeinern, aber ich denke auch, dass die Metalheads in Bezug auf die Geschlechterkisten schon viel weiter sind, als die gesamte Gesellschaft. Ich kenne viel mehr Metalheads als Nicht-Metalheads, bei denen der Papa die Elternzeit genommen hat. Ein Selbstverständnis, das an anderer Stelle unüberwindlich erscheinende gesellschaftliche Probleme erzeugt.
Viele Probleme auf der Welt entstehen dadurch, dass Menschen andere Menschen manipulieren. Dann bilden sich Gruppen und Meinungscluster und die bekämpfen sich dann gegenseitig. Auf einem Festival beziehungsweise unter Metalheads scheint das anders zu sein. Vielleicht liegt es ja daran, dass uns die Musik alle viel entspannter macht und wir dadurch die anderen Dinge nicht so wichtig nehmen. Dadurch gibt es ein viel besseres Miteinander und auch eine bessere Diskussionskultur.
Damit meine ich nicht, dass wir ja alle nach dem fünften Bier die Fähigkeit haben, alle weltpolitischen Probleme zu lösen (lacht). Denn leider haben wir dann am nächsten Morgen vergessen wie die Lösung war (lacht).
Also Gemeinschaft und Zuhören, das sind so die wichtigsten Dinge, die die Gesellschaft von uns lernen kann.
Zur legendären Wortkargheit von Holger erzählt Nils: Ich hatte ihn mal auf seine zurückhaltende Natur angesprochen und gesagt: na du bist aber auch nicht ein Mann von vielen Worten. Worauf Holger geantwortet hat „ein Acker mäht sich auch nicht durchs Reden“ (lacht)
Und so ist es eigentlich auch, Holger bekommt alles mit und organisiert innerhalb kürzester Zeit die tollsten Dinge. Auch auf dem Festival, er weiß alles, er bekommt alles mit findet immer sofort Lösungen. Der kann also wirklich was.
Nils, kannst du uns zu folgenden Stichwörtern spontan sagen was dir einfällt?
Rituale
Nils: Das erste Bier vor dem Zeltaufbau (lacht).
Ernährung:
Nils: Individuell
Wie ist deine Meinung zur Massentierhaltung?
Nils: Noch nötig, sollte aber möglichst schnell eingeschränkt und Fleisch teurer gemacht werden. Massentierhaltung sollte nicht mehr rentabel sein. Die Höhe des Preises sollte den Verbrauch senken. Früher gab es den Sonntagsbraten, der was Besonderes war. Und da müssen wir wieder hin. Ich esse zwar hin und wieder Fleisch aber nur sehr selten vom Discounter. Mit Kindern ist es zwar etwas schwieriger, aber auch das sollte möglich sein.
Nachhaltigkeit
Nils: Sehr wichtig, Plastik sollte vollkommen aus unseren Märkten gestrichen werden. Und als Verbraucher sollte man so gut wie möglich lose Waren kaufen und Verpackungen im Supermarkt zurücklassen. Denn wenn jeder seine Verpackungen im Supermarkt zurücklässt, wird der Supermarkt irgendwann mal an die Erzeuger herantreten und sagen, dass das so nicht geht. Auch auf den Festivals muss unbedingt auf Nachhaltigkeit geachtet werden. Wir zum Beispiel, nehmen eine Zapfanlage und echte Gläser mit, auf die wir auch sehr gut aufpassen. In drei Jahren ist davon nur eines kaputt gegangen. Wir wollen kein Plastik, keine Dosen und auch kein zerdeppertes Glas zurücklassen.
Werte
Nils: Das ist ein Thema, über das man Nächte und Wochen lang reden kann. Für den Metalhead sind Werte besonders wichtig: man tut gewisse Dinge einfach nicht. Während im Kiez jemand aus der 1 Euro Kneipe rauskommt und gegen die nächste Hauswand pinkelt, versuchen die meisten Metalheads 10 m weiterzugehen und zumindest gegen einen Baum zu pinkeln. Ich habe auch noch nie gesehen, dass sich vor einer Metalkneipe Metalheads prügeln.
Manche versuchen die selbst aufoktroyierten Werte auch nach außen zu tragen, höflich und zuvorkommend, insbesondere älteren Menschen gegenüber, zu sein. Und damit zu zeigen, dass wir ganz friedliche, nette Menschen sind.
Ethik
Nils: Ethik und Werte sind artverwandt. Ethik wird manchmal durchbrochen, um mit der Musik progressiv zu sein. Siehe Rammstein, die versuchen immer Grenzgänger und provokant zu sein. Und dann hast du auch Bands, die Namen haben wie Dying Fetus, wo ich mich dann frage, ob denn das nötig ist.
Wacken
Nils: Wackööön! Zweites Wohnzimmer.
Schwarz
Nils: Eine lebhafte fröhliche Farbe (lacht). Habe einen eigenen Kleiderschrank nur mit schwarzen Klamotten.
Und der andere?
Nils: Da sind dann Jeans und Polo Hemden etc. drinnen. Klamotten, die ich anziehe, wenn ich mit Menschen unterwegs bin, die leicht zu irritieren sind oder die ich beruflich benötige.
Toleranz
Nils: Sozusagen der Paragraph 1 des Metal Grundgesetzes.
Wird zwar auch sehr individuell gehandhabt, aber z. B. Inklusion und Fremdenfreundlichkeit sind enorm wichtig. Niemand ist vorurteilslos, aber man muss versuchen, die Vorurteile so weit wie möglich wegzudrücken.
Alter
Nils: spielt keine Rolle. Wenn Oma Kalupke mit ihrem Rollstuhl über das Gelände gekarrt wird, findet es jeder schön, wie sehr sie sich darüber freut.
Einer meiner größten Wünsche ist es, meiner Tante zu ermöglichen, die so gerne mal mitkommen würde, einen Tag in Wacken zu verbringen. Sie sieht sich jeden einzelnen YouTube Film an und ist total begeistert. Sie schaut auch immer, ob sie nicht mich, ihren Neffen, aus irgendeiner Ecke hervorspringen sieht.
Finanzen
Nils: Wer ist dieses Geld, von dem immer alle reden? Eigentlich nicht wichtig, manche haben mehr Geld, manche haben weniger Geld und wenn mal jemand gar kein Geld hat und am Tresen steht, bringt man ihm ein Bier mit. In Deutschland redet man nicht über Geld, das macht es immer ein wenig schwierig. Klar, wenn man mit einem Campingwagen und einem X5 auf‘s Gelände fährt, dann weiß jeder, dass du wahrscheinlich nicht am Hungertuch nagst.
Umweltschutz
Nils: Im Grunde genommen hängt das ja mit Nachhaltigkeit zusammen. Nachhaltigkeit ist etwas breiter gefächert. Ich glaube, dass Umweltschutz inzwischen von vielen stark gelebt wird. Ob jetzt Metalheads umweltfreundlicher sind, als die Verteilung in der Normalbevölkerung, kann ich statistisch nicht belegen, vorstellen könnte ich es mir aber. Es ist auch großartig, dass für Events und Festivals das Thema Umweltschutz immer größer geschrieben wird. Dass viele Festivals dafür neue Wege einschlagen und sogar Zelte aufbauen, in denen mit Fachleuten über Umweltschutz auf Events und Festivals gesprochen werden kann. Mittlerweile schafft man es ja, den Müll auf Festivals deutlich zu reduzieren.
Gemeinschaft und Zusammenhalt
Nils: Eine große schwarze Familie von über 80.000 Menschen. Ganz großes Kino.
Familie
Nils: Da gibt es die große gut funktionierende von mindestens 80.000 Menschen. Und dann gibt es die kleine, die, wie bei allen anderen Menschen auch, durchaus auch zerrüttet sein kann.
Könnte mir auch vorstellen, dass im Metal sehr viele aus nicht ganz unproblematischen Familienverhältnissen kommen, bzw. den einen oder anderen Stolperstein im Leben überwinden mussten. Das kann aber auch daran liegen, dass wir offen über solche Dinge sprechen.
Ich habe zum Beispiel mein eigenes IKEA Lied. Das Spit it Out von Slipknot – das macht aus mir die Ruhe selbst, wenn ich wieder einmal genötigt bin zu IKEA zu gehen (lacht). Selbst wenn mir dann jemand mit dem Einkaufswagen in die Hacken fährt, nehme ich das gelassen.
Noch eine Anekdote aus unserem Camp: Wir haben begonnen mit drei Leuten und das größte Camp, das wir je hatten, bestand aus 36 Leuten. Dafür haben wir ein Teamzelt gekauft. Ein großes Hochzeitszelt, in dem auch 36 Leute sitzen können. Ein Teil unserer Gruppe ist eine Horde bayrischer Maschinenbau-Ingenieure, die alle total durchgeknallt sind. Wir haben etwas gebaut, das wir liebevoll Britney Beers nennen. In diesen Apparat kann man einen echten gefüllten bayerischen Masskrug so einklemmen, dass er hermetisch dicht ist. Dann wird anhand eines Kompressors bei 2,4 bar über ein Auslöseventil und vier Schläuche das Bier rausgehauen. Das heißt, man bekommt in einer halben Sekunde ¼ l Bier in den Rachen geschossen.
Legendär ist auch die Bieraffe, die aus Bierdosen zusammengeklebt ist und irgendwann mal vor dem Infield platziert wurde und auch andere künstlerisch hochwertige Bierdosengebilde, die Metalheads auf dem Kopf tragen.
Wo findet ihr eigentlich Platz, wenn ihr euch in so großen Gruppen im Rahmen der Facebookgruppe trefft?
Nils: Naja, wir haben so lange genervt, bis wir die „Welcome to the Jungle“ Bühne bekommen haben für unser Gruppentreffen. Wir haben uns auch ein Gruppen T-Shirt gemacht, das als Erkennungsmerkmal dient. Und um zu diesem Treffpunkt zugelassen zu werden, muss man entweder dieses T-Shirt tragen oder etwas Oranges. Denn was findet man nicht auf einem Metal Festival? Orange T-Shirts. Es sei denn, man ist Sanitäter. Die Warnweste aus dem Auto genügt prinzipiell.
Danke für das interview, Nils.
Interview: Dr. Lydia Polwin-Plass und Dr. Michael Glaeser
Foto: Wacken Open Air Facebook Gruppe
„WACKEN – das perfekte Paralleluniversum: Was die Gesellschaft von Metalheads lernen kann„, unser Buch über die Liebenswürdigkeit der Metalheads und den sozialen Aspekt der Metalszene, könnt ihr überall im Buchhandel oder signiert über info@metalogy.de bestellen.
Lydia Dr. Polwin-Plass
Promovierte Journalistin und Texterin, spezialisiert auf die Themen Kultur, Wirtschaft, Marketing, Vertrieb, Bildung, Karriere, Arbeitsmarkt, Naturheilkunde und Alternativmedizin. Mehr über Dr. Lydia Polwin-Plass auf ihrer Website: http://www.text-und-journalismus.de