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Interview mit Enno Heymann / Wacken Music Camp Interview mit Enno Heymann / Wacken Music Camp
Enno Heymann vom Wacken Music Camp hat uns im Interview für unser Buch "Wacken – Das perfekte Paralleluniversum. Was die Gesellschaft von Metalheads lernen... Interview mit Enno Heymann / Wacken Music Camp

Enno Heymann vom Wacken Music Camp hat uns im Interview für unser Buch „Wacken – Das perfekte Paralleluniversum. Was die Gesellschaft von Metalheads lernen kann“ vom Wacken Music Camp erzählt, wie viel Freude die Kinder daran haben, wie leidenschaftlich sie mitmachen und wie kollegial sie miteinander umgehen.

Hallo Enno. Vielen Dank, dass du dir Zeit für unser Interview nimmst. Könntest du dich kurz vorstellen und uns vom Wacken Music Camp erzählen?

Enno: Seit 2004 arbeite ich mit den Wacken-Leuten zusammen und habe eigentlich einen Musikverlag. Ich bin also sozusagen an der Wahrnehmung von Urheberrechten beteiligt. Über die letzten Jahre habe ich einen relativ großen Katalog an Metal, Folk Metal und Deutschrock aufgebaut. Ich habe aber auch immer schon Dienstleistungen für‘s Wacken Open Air gemacht. Ich war mal Projektleiter bzw. technischer Leiter bei einem Jugendprojekt, das SchoolTour hieß. Dann habe ich in Wacken selbst Dienstleistungen gemacht. Ich war im Produktionsbüro tätig und hab‘ auch mal den Artist Shuttle-Bereich geleitet. Ich habe sozusagen die Wacken Foundation-Area aufgebaut, bin da quasi auch Kurator der ersten Stunde und hab‘ den Metal Battle übernommen. Das ist der Nachwuchswettbewerb auf dem W:O:A. Den mache ich jetzt aber nicht mehr operativ – das macht jetzt Sascha Jahn. Der ist im operativen Geschäft mit mittlerweile 60 Ländern aktiv, die an diesem Wettbewerb teilnehmen. Ich achte eher darauf, dass sich der Metal Battle inhaltlich entwickelt.

Wacken liegt im Kreis Steinburg und Steinburg ist eigentlich eher ein Transitbereich zwischen Hamburg und Sylt. Auf der A23 fährt man da vorbei, würde aber nie auf die Idee kommen rauszufahren. Dort gibt es nicht mal einen Autorasthof oder ähnliches. Da ist nichts. Wir haben dann 2012 überlegt, was man dort neben dem Wacken Open Air noch machen könnte. Man kann ja nicht Leute hinlocken, weil da ein schöner Strand ist oder weil da irgendwas Anderes besonders toll ist. Man muss ein besonderes inhaltliches Angebot formulieren. Wir wollten einfach Jugendlichen mal die Möglichkeit geben, hinter die Kulissen zu gucken, wenn da grad nichts stattfindet. Auf dieser Kuhwiese steht sonst eine Bühne, die ziemlich groß ist und man kennt sie aus dem Fernsehen. Aber ansonsten ist das nichts weiter als eine Kuhwiese. Wir haben also ein Angebot geschaffen ­– zielgerichtet für Kids, die an Metal interessiert sind oder Interesse an handgemachter Musik haben.

In der Regel sind wir ja die Toleranten. Das muss man ja auch mal sagen. Wir schließen niemanden aus. Wenn du im Bereich der Popularmusik-Förderung mit Metal um die Ecke kommst, wirst du erstmal komisch angeguckt. Und erwartet man, dass da langhaarige Volltätowierte mit einer Harley ankommen. Selbst im Bereich der aufgeschlossenen Popularmusik sind wir immer noch eine Rand-Sparte. Das ist Fluch und Segen. Aber wir wollten dann mal zielgerichtet ein Angebot für unser Klientel machen. Ohne Pop und Jazz – speziell etwas für Metalkids, die ja sonst keine Angebote finden. Für diese Gruppe beschlossen wir etwas zu formulieren. Daraus ist dann das Wacken Music Camp entstanden.

Wir haben damals einfach über den Daumen gepeilt, wieviele Kids man vernünftig entertainen könnte bzw. bei wievielen man eine vernünftige Betreuungsdichte hätte, um ein gutes Kreativ-Angebot schaffen zu können. Dagegen haben wir den Aufwand abgewogen. Das waren dann maximal 100 Kids, die entsprechend in Bands aufgeteilt werden sollten. Bereits am Vorgängerprojekt „Schooltour“ hatte ich gesehen, dass die Kreativität grenzenlos ist. Wir wollten also nicht mit Wissensvermittlung ankommen, sondern mit Kreativitätsförderung. So ließen wir die Kids in Bands zusammenspielen, wobei es egal war, ob jemand schon der totale Kniedelkönig war oder sich erst mal ausprobieren wollte. Wir wollten einfach nur, dass sie kreativ sind. Sie müssen eigene Texte schreiben, eigene Kompositionen machen, und dürfen also nicht covern. Innerhalb von 7 bis 8 Tagen wird aus den 5 bis 6 Leuten, die zusammen eingeteilt wurden, immer irgendwie tatsächlich eine Band.  Und alle Kids haben es geschafft, unter guter Betreuung und Anleitung, ein Lied zu komponieren, aufzunehmen und bei der Abschlussveranstaltung auf der Bühne zu präsentieren.

Anfangs haben wir in der Kuhle gecampt, wo jetzt hinter den Hauptbühnen das Artist Village ist und wurden da vom Landgasthof versorgt. Die Kids haben zusätzlich halbtags die touristischen Attraktivitäten im Kreis Steinburg erschlossen. Sowas wie den Klettergarten oder das Freibad in Wacken. Das ist im Prinzip das Wacken Music Camp.

So wurde letztendlich für ein sehr spezielles Interesse von Jugendlichen ein Angebot geschaffen, durch das sie sich ausleben, zusammenkommen können und sich nicht verstellen oder irgendeine Rolle spielen müssen. Das Angebot richtet sich an Jugendliche zwischen 13 und 17. Im Music Camp sind die Kinder keine Außenseiter, wie sie es vielleicht auf der normalen weiterbildenden Schule sind. Einige von den Kids kommen aus Schleswig-Holstein, aber auch aus dem ganzen Bundesgebiet: Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hessen. Zum Teil hatten wir auch internationale Leute dabei. Wir hatten einen Rumänen, der mit seiner Familie ausgewandert und extra für das Camp zurückgekommen ist. Da sie dort keine Angebote in dieser Form haben, sind sie im Camp natürlich herzlich willkommen mitzumachen. Es gibt auch keine Beschränkungen, wer da mitmachen darf. Die meisten sind natürlich das erste Mal dabei, aber wir haben auch Wiederholungstäter.

Interessant war auch die Art des Zusammenlebens. Gerade beim ersten Camp 2014 hatte man nach kurzer Zeit das Gefühl, dass die Kids einander schon ewig kennen, was nicht der Fall war. Es gab vielleicht mal zwei oder drei, die zusammen hingekommen waren, aber ansonsten sind die meisten einzeln gekommen und aus irgendwelchen Dörfern, wo sie keine Gleichgesinnten hatten. Wo sie auch nicht Musik machen konnten, weil es keine anderen gab, die Bock auf Metal hatten und mit denen sie zusammenspielen konnten.

Im Music Camp sind sie dann zusammengekommen und konnten sich dort sozusagen ungeschminkt zeigen. Die kommen von allgemeinbildenden Schulen. Da hört man halt viel Hip Hop. Ich habe auch Kinder und weiß, was die so hören. Und das ist nicht das, was ich gerne höre. Müssen sie auch nicht. Die können hören, was sie wollen. Ein Metalkid ist da eher in der Minderheit und wenn es dann auch noch Musik machen und in einer Band spielen will, dann ist es im ländlichen Raum relativ schwer Gleichgesinnte zu finden. Und als diese Kids dann zusammenkamen, war das so, als ob die im schon Sandkasten miteinander gespielt hätten.

Wir machen das Music Camp ja auch einmal im Jahr in Bayern. Im Schloss Alteglofsheim im Winter. Im Prinzip sind das oftmals in der Kernbesetzung die gleichen Kids. Die kommen immer wieder, bis sie aus dem Alter raus sind und nicht mehr teilnehmen dürfen. Es wachsen aber immer wieder Neue nach.

Wieviele Bewerbungen habt ihr so durchschnittlich? Habt ihr mehr als ihr nehmen könnt?

Enno: Nein, bisher ist es immer so gewesen, dass alle, die sich dafür bewerben, auch angenommen wurden. Wir hatten nie die Situation, dass wir 180 Bewerbungen haben und nur 100 nehmen können. Im ersten Jahr hatten wir um die 80 Teilnehmer. Das variiert ein bisschen. In Bayern haben wir grundsätzlich ein bisschen weniger, weil das nicht im Freien ist, sondern im Schloss. Aber alle, die sich bis jetzt beworben haben, konnten wir annehmen.

Manchmal muss der Teilnehmer vielleicht ein bisschen Flexibilität mitbringen. Wenn es zum Beispiel 15 Drummer gibt, aber nur 8 Bands, dann müssen 7 Schlagzeuger vielleicht mal überlegen, ob sie nicht doch lieber Bassist werden oder sich mal als Sänger versuchen wollen. Das ist manchmal ein bisschen schwierig, aber es geht ja vordergründig nicht darum Frontalunterricht zu machen, sondern etwas Kreatives zu schaffen. Dazu gehört dann auch mal, dass man vielleicht primär nicht das spielt, wofür man ursprünglich gekommen ist, sondern etwas flexibel ist.

Am Anfang hatte man tatsächlich zu viele Schlagzeuger und Gitarristen. Niemand wollte Bass spielen. Beim letzten Music Camp hatte ich dann plötzlich einen Bassisten zuviel. Diese ganze bekehrende Arbeit hat sich darin niedergeschlagen, dass viele bei diesem Instrument geblieben sind. Die Kids haben sich dafür geöffnet und teilweise auch erkannt, dass sie eventuell gar nicht der Typ dafür sind, jeden Tag 7 Stunden Gitarrenlicks zu üben und sind dann beim Bass geblieben.

Treffen sich die Kids eigentlich nachher auch außerhalb der Music Camps? Hast du da was mitbekommen?

Enno: Teilweise ja, es gab sogar eine Band, die sich im Camp formiert hat und dann für eine gewisse Zeit zusammengeblieben ist. Die kamen aus einem machbaren Umkreis und die Eltern haben dann auch mitgeholfen. Das gehört dann auch nochmal dazu. Gerade wenn du noch nicht so flexibel bist.

Ansonsten ist so ein Treffen räumlich gesehen fast nicht möglich. Wenn einer aus Kassel kommt und der nächste aus Berlin und der andere aus Lübeck, ist das echt ein Problem.

2020 haben wir dann coronabedingt ein digitales Angebot organisiert und den Kids Zoom-Räume zur Verfügung gestellt. Die waren auch wirklich kreativ und das lief wirklich gut. Die konnten übers Internet sehr gut miteinander agieren und waren sehr, sehr lange zusammen in diesen Räumen. Nachher haben sie auch noch ihre Freizeit gemeinsam verbracht und gezockt. Der Highscorer war 16 Stunden online. 6 Stunden mit seiner Band und dann noch 10 Stunden im Chat und in Spielen.

Wen habt ihr als Coaches dabei?

Enno: Das ist auch eine sehr interessante Geschichte. Auf der einen Seite gibt es die Produzenten, die tatsächlich ein mobiles Studio aufbauen. Das sind Typen, die normalerweise auch Studios haben. Da ist zum Beispiel Lasse Lammert aus Lübeck, der regelmäßig Bands wie Alestorm produziert. Im Prinzip sind das volltätowierte Metaltypen – alle sehr authentisch (lacht). Das ist auch sehr wichtig bei der ganzen Sache, dass da Typen sind, die aus der Szene kommen.

Dann hatte ich Eike Freese dabei, der zum Beispiel in seinem Studio die Live-DVD von Deep Purple gemacht hat. Den 5.1-Mix. Das sind alles sehr metalaffine Typen, die teilweise sehr erfolgreiche Metalbands produziert haben. Manchmal gibt es auch Ausnahmen. Ich hatte mal jemanden dabei, der mit Helene Fischer gearbeitet hat.

Auf der anderen Seite gibt es die Bandcoaches, die keine Instrumentallehrer sind, sondern die Band coachen sollten – mit dem Schwerpunkt auf dem Instrument. Da habe ich zum Beispiel Nibbs (Carter) dabei, den Bassisten von Saxon. Oder Specki, den Drummer von In Extremo. Ich hatte auch mal Timo Kotipelto, den Sänger von Stratovarius dabei. Der macht auch selber ein Camp in Finnland. Und dann habe ich sozusagen ein paar Dorfschönheiten dabei, die hier oben Metalgitarristen oder Drummer sind. Tobias Mertens zum Beispiel, ein Multiinstrumentalist. Der Schwerpunkt liegt aber auf dem Bandcoaching und nicht auf dem frontalen Musikunterricht.

Organisiert ihr das Music Camp alleine oder habt ihr Kooperationspartner?

Enno: Das machen wir in Kooperation mit dem Landesverband der Musikschulen. Es geht ja im Camp nicht darum, den richtigen Weg zu zeigen, jemandem etwas beizubringen. Bei uns geht es darum, aufzuzeigen, dass man mit relativ einfachen Mitteln kreativ sein kann. Ob man dann, um das Lieblingsinstrument zu erlernen, auf eine staatliche Musikschule geht oder sich siebenundvierzig Millionen YouTube-Tutorials ansieht, ist im Prinzip egal.

Wir sagen: Wenn du Bock hast Metal zu machen, dann mach. Du wirst deine Rolle schon finden und, wenn du dich dann verbessern möchtest, steht dir das völlig frei. Das ist ein völlig anderer Ansatz als der, den wir von Musikschulen kennen. Wir machen es halt andersherum. Wir versuchen erst einmal Bock zu schüren und dann geht es weiter. Und wenn du dann heiß bist, übst du auch gerne freiwillig. Und so erleben wir das auch. Es mussten im Camp schon viele Fingerchen verbunden werden, weil sie vor lauter Eifer und Einsatz blutig waren.

Am Anfang haben wir überlegt, was wir denn 8 Tage lang mit den Kids in Wacken machen sollten. Einen halben Tag lang machen sie Musik und danach muss man sie beschäftigen. Klettergarten, Schwimmbad – da ist man relativ schnell durch. Dann gibt es noch einen Steinzeitpark in Dithmarschen. Notfalls wäre auch ein Besuch von Hamburg eine Option. Aber am Ende des Tages waren drei Freizeitaktivitäten schon fast zu viel, weil die Kids einfach nur miteinander abhängen und kreativ sein wollen. Sie verkrümeln sich mit ihren Instrumenten und schreiben und machen und tun.

Man muss nur einen Rahmen schaffen, in dem sie sich bewegen können. Und das Essen muss man auf den Tisch bringen – der Rest erledigt sich von selbst.

Von den drei Freizeitveranstaltungen sind wir mittlerweile schon abgekommen und machen demnächst nur noch zwei. In Bayern ist das etwas komprimierter. Da findet das Camp an vier Tagen statt. Also gibt es überhaupt keine Freizeitaktivitäten. Dort gehen morgens um 9 Uhr die Proberäume auf und abends um 22 Uhr werden sie wieder abgeschlossen. Dann wird gegessen und das war‘s. Die Kids können es morgens gar nicht erwarten, hineinzugehen und loszuhämmern. Du musst nur den Raum schaffen und dann geht alles ganz von selbst seinen Weg.

Wie heißt das Camp in Bayern?

Enno: Das heißt Wacken Music Camp Alteglofsheim. Das hieß früher Metal Winter Wonderland, jetzt aber auch Wacken Music Camp. Für mich ist Wacken Music Camp der Brand, der für die Kreativität von Kids steht.

Wir hatten auch schon eine Multiinstrumentalistin dabei, die Harfe spielte. Das war super. Daraus haben die so eine Art perkussives Drum-Ensemble mit Harfe und Keyboard gemacht. Das war höchstexperimentell und absolut irre. Da war auch ein richtig guter Drummer dabei. Bei dem hatte ich befürchtet, er könnte sich vielleicht etwas unterfordert fühlen und würde lieber in einer Thrash Metal-Band spielen. Aber dem war nicht so. Nach dem zweiten Tag hat er die künstlerische Leitung der Band übernommen.

Man muss auch immer wieder darüber nachdenken, inwieweit man die Weichen stellt oder es einfach mal laufen lässt. Ich glaube, wir müssen den Mut haben, die Dinge sich einfach mal entwickeln zu lassen und den Kids mehr zuzutrauen als reines Konsumentenverhalten. Die werden sich schon selber zusammenfinden. Und wenn sie das nicht können, was auch immer mal passieren kann, kannst du immer noch eingreifen. Diese gruppendynamischen Prozesse finden ganz von selbst statt. Die Älteren und Erfahreneren nehmen auch andere mit. Die sitzen dann zusammen in der Ecke und zeigen einander ihre Skills. Das ist tausendmal mehr wert, als wenn ein Lehrer sagt: „Große Terz, kleine Terz und die Quint“.

Als wir damals gezeltet haben, waren 24/7 wenigstens zwei Leute wach, um die ganze Zeit am Lagerfeuer zu sitzen und nachts darauf zu achten, dass wenn jemand zur Toilette geht, er/sie auch wiederkommt. Und wenn er/sie zulange wegbleibt, dass dann mal jemand mit der großen Taschenlampe hinterher geht.

Sowas musst du dir echt gut überlegen, wenn du sowas veranstaltest. Du musst Überzeugungstäter sein. Es könnten so viele kleine Sachen passieren, wo du richtig einen vor den Bug geschossen bekommst. Aber auch da ist das wichtigste zu vertrauen.

Was von außen kommt, kannst du ja nie wissen, aber den Leuten im Camp musst du vertrauen. Auch wenn das manchmal schwierig ist. Für die Kids, die du zweimal ermahnt hast, ist es das Schlimmste, wenn du die Telefonnummer ihrer Mutter rausholst, um sie abholen zu lassen. Ein einziges Mal hatte ich die Nummer gewählt und dann gab es den Kniefall. Das ist nie mehr vorgekommen. Aber man muss auch sagen, sechs Jahre lang ein Jugendcamp fast reibungslos zu organisieren, gibt es auch nicht so oft. Was wir uns alles ausgemalt haben und überlegt haben, wie wir in bestimmten Situationen reagieren müssten. Was ist, wenn ein Kind totales Heimweh hat oder wenn es zwischen den Kids Konflikte gäbe oder ein Kind nur gemobbt würde? Aber nichts davon ist passiert.

Als ein Kind tatsächlich mal Heimweh hatte, haben die Eltern den aus 30 km abends abgeholt und morgens wiedergebracht und das war‘s. Die anderen Kids haben sich total gefreut, als er wieder da war und haben ihm mitgeteilt, was sie sich musikalisch Neues überlegt hatten. Der wurde überhaupt nicht wegen seinem Heimweh aufgezogen – das ist wirklich erstaunlich. Diejenigen, die sich über solche Situationen Gedanken machen, sind nur wir.

Und auch in Bayern haben die Kids das Vertrauen bisher noch nie missbraucht. Das ist wirklich erstaunlich und das ist auch der Grund das weiter zu machen. Wenn WIR es nicht machen, macht es keiner. Du findest ansonsten kein Camp für Metalinteressierte in Deutschland. Da gibt es sonst gar nichts.

Vielleicht gibt es da auch gar nicht so viele Interessierte. Wir haben uns natürlich auch überlegt, was wir machen, wenn wir 400 Anmeldungen bekommen und dann auswählen müssten. Wir hatten uns schon irgendwelche Excel-Zufallstabellen zurechtgelegt. Letztendlich waren es 78 Kids bundesweit. Dabei hat es das W:O:A ja auch kommuniziert und die Szene hat es ja auch irgendwie mitbekommen. Die Eltern aus unserer Szene kennen das Camp. Die haben davon zumindest schon mal gehört. Die meisten Kids, die zu uns kommen, haben aber gar keine Verbindungen über ihre Eltern zu unserer Szene. Das sind Kids, die das Angebot in ihrer Musikschule sehen.

Nur etwa 20% haben Metal-Eltern als Hintergrund. Kids ohne diesen Hintergrund haben es vielleicht auch gar nicht so leicht. Da sagen die Eltern vielleicht: Du willst auf so ein Hottentotten-Camp zu den ganzen schwarzen Typen, die alle tätowiert sind, und wo den ganzen Tag nur laute Musik läuft? Die fressen dich doch morgens alle auf. Geh doch mal lieber zur christlichen Jugend Bad Segeberg. Das kann alles sein. (lacht) Warum findet jemand, dessen Eltern Schlager toll finden, plötzlich Slayer gut?

Wer hatte die Ursprungsidee zu diesem Camp? Wie wurde es gegründet?

Enno: Ich hatte irgendwann mal eine Praktikantin, die das ausarbeiten musste. Die Aufgabe war: Stell dir vor, du bist in Wacken, aber es ist nicht Festival. Lass uns mal überlegen, was man tun müsste, um Angebote zu schaffen. Es gab ein paar Vorgaben: Man sollte campen und das Gelände genießen. Wir wollten aber auch etwas Kreatives haben, was mit uns und dem Bereich Metal zu tun hat. So haben wir das als erste grobe Skizze entwickelt. Erfahrungen aus meiner School Tour Zeit, dass es möglich ist, auch in kürzester Zeit einen eigenen Song zu schreiben, haben da mitreingespielt.

Es ist zum Beispiel ein riesiger Unterschied zu den Bands, die nur covern. Der Timo Kotipelto macht ja ein ähnliches Camp in Finnland. Crater Rock heißt das. Da hat er im Prinzip hochdotierte Lehrer wie Kai Hahto, den Drummer von Nightwish. Ich war mal vor Ort. Unfassbar, dort sind Topmusiker. Aber die suchen sich halt irgendeinen Song wie Paradise City zum Beispiel. Und dann covern sie ihn mit den Kids. Die kriegen da richtig Unterricht. Das ist ein ganz anderer Ansatz als unserer.

Timo glaubte nicht, dass man innerhalb von einer Woche einen Song schreiben könnte. Ich sagte ihm dann, er könne ja mal vorbeikommen und mitmachen.

Wir hatten dann also diese Grobskizze des Music Camps und dann gab es mal ein Projekt „Steinburg 2030“. Das war ein zukunftsorientiertes Projekt darüber, wo Steinburg im Jahr 2030 stehen sollte. Und so haben wir von unserer Skizze einen 7-Seiter einfach mal an die Wand gepinnt. Der Bürgermeister von Wacken fand unser Konzept super.

2013 kam dann Helmut Kolzer vom Landesverband der Musikschulen in Schleswig-Holstein in unserer Firma vorbei und wollte auf dem Wacken einen Informationsstand aufbauen, um über die Musikschulen in Schleswig-Holstein zu informieren. Ich habe dann gesagt, dass das zwar super wäre, aber auch total uninspirierend. Nur so einen Stand hinzustellen kann nicht alles sein. Dann haben wir ihm von unserer Idee erzählt und er war sofort Feuer und Flamme.

So ist der Landverband der Musikschulen unser Kooperationspartner geworden. Das hat uns natürlich einen sehr seriösen Anstrich gegeben. Der Verband ist in solchen Projekten auch sehr bewandert. Besonders wenn es um Fördergelder geht, die wir auch bekommen. Es ist schon etwas anderes, wenn der Landesverband der Musikschulen Fördergelder beantragt oder irgendwelche langhaarigen Hippies aus Wacken.

Wir wollten das Camp auch immer sehr zugangsoffen haben. Diese ganze Woche inklusive Vollverpflegung, Freizeitunternehmungen und allem Drum und Dran kostet knapp unter 300 Euro. So wurden sie unser Kooperationspartner und das Music Camp wurde 2014 realisiert. Es war für das, was wir nach Außen kommunizieren konnten, wichtig, dass es diesen seriösen Part gab. Wobei die Musikschulen mit der Konzeptionierung des Musikprogramms erst einmal gar nichts zu tun hatten. Der Helmut war ein alter Pfadfinder und hat sich um den Zeltaufbau gekümmert. Wir haben uns das am Anfang sehr gut eingeteilt. Er machte das Lager, ich die Musik. Nach Außen war das aber egal.

Außerdem hat der Bürgermeister das auch sehr getragen. Das Dorf hat das weitestgehend auch getan. Ein paar Wenige meinten zwar, dass doch das Festival schon so laut sei. Dabei hören das nur ein oder zwei Leute direkt nebenan. Mehr nicht. Aber ein paar Anrainer kamen dann mal in der Schule vorbei und fanden total super, was wir machen. Letztendlich profitiert das Dorf ja auch davon. Es gibt ja sowieso eine sehr starke Symbiose zwischen dem Dorf und uns. Und die Meisten hat es dann wirklich auch interessiert.

Du hast ja mit Thomas Jensen zusammen den ENORM Musikverlag. Gibt es da auch eine Verbindung zum Camp?

Enno: Thomas (Jensen) und Holger (Hübner) sind Teilhaber am Musikverlag. Kommanditisten. Thomas ist pro forma Mitgeschäftsführer. Bei den Beiden ist es Politik, dass einer von ihnen immer in der Geschäftsführung sitzt. Operativ macht Thomas aber nichts. Bezüglich des Wacken Music Camp erbringt die ENORM Music Dienstleistungen. Ich bin nicht Veranstalter sondern Projektleiter und bekomme dafür auch ein Honorar.

Dadurch, dass ich über den Verlag viele Leute, Autoren oder Produzenten kenne, habe ich es natürlich leichter Leute für das Camp zu kontaktieren. Weil es dann aber monetär sehr zugangsoffen ist, sind die Honorare, die wir den Coaches bezahlen, auch relativ beschränkt. Für mich ist es deshalb Überzeugungsarbeit, denen klar zu machen, dass sie nicht dasselbe verdienen, wie im Studio.

Dafür gibt es Kids, die für die Musik brennen. Da sind das Business oder irgendwelche Credits oder Produzentenpunkte scheißegal. Es geht nur darum Mucke zu machen. Und trotzdem beim ersten Mal die Vertragsverhandlungen über das Honorar zögerlich waren, haben die aber immer wieder Bock gehabt, wenn sie erst einmal mitgemacht haben.

Auch die Produzenten sehen, dass die Kids sehr für die Sachen brennen. Die sitzen sonst 300 Tage im Studio und da geht es immer irgendwie ums Business – und nicht immer nur um Kreativität.

Bei uns geht es nur um Essen, Muckemachen und Brennen für die Sache und keine verdorbenen Businessgeschichten. Es gibt nur 100% Bock. Für den einen oder anderen der Mitarbeiter ist das eine Art Lebenselixier geworden – die wollen da unbedingt mitmachen. Viele müssten das finanziell nicht machen und könnten genauso gut nach Malle fliegen oder auf seinem Hausboot sitzen. Aber die haben einfach Bock drauf, weil es um den Kern des Ganzen geht: Ums Musikmachen und um nichts Anderes.

Wäre es vorstellbar, das Camp dieses Jahr unter Corona-Bedingungen stattfinden zu lassen?

Enno:  Das ist schwer zu beantworten. Aktuell wüsste ich nicht, wie man das bewerkstelligen könnte. Wir haben ja eine lange Zeit gecampt und haben dann quasi in der Schule auch unsere Lager aufgeschlagen. Es gibt zwei Turnhallen in der Grundschule. So können dann in einer Turnhalle die Mädels pennen und in einer die Jungs. Das kann man da ganz charmant regeln. Man benutzt dann aber die gleichen Sanitärräume und kocht gemeinsam auf relativ kleinem Raum. In der Schule gibt es auch eine Küche, die wir benutzen dürfen. Wo die Kids auch zum Küchendienst eingespannt werden. Da sind die Teilnehmer natürlich ziemlich eng zusammen. Abstandhalten funktioniert da nicht. Das halte ich auch für äußerst schwierig.

Es ist natürlich nicht generell auszuschließen, dass man das Camp dieses Jahr macht, wenn es unter erträglichen Bedingungen möglich ist. Aber ich kann es mir aktuell noch nicht so richtig vorstellen. Ich möchte da auch nicht den ganzen Tag mit dem Regelbuch rumrennen und den Kids erzählen, was sie dürfen und was nicht. Das wäre genau das, wofür wir nicht angetreten sind. Natürlich gab es auch vorher Spielregeln, aber nur grobe. Kein Alkohol, keine Drogen und so. Aber nicht, wo sie lang gehen und wieviel Abstand sie halten müssen. Das ist auf jeden Fall ein Problem, das wir haben. Das ist natürlich schade, weil im letzten Jahr sich bei den Kids die Defizite noch verstärkt haben. Zur-Schule-gehen funktioniert ja gerade auch nicht. Mit 16 in die Disco zu gehen und die Sau rauszulassen ist auch nicht möglich.

Theoretisch wäre das Camp ja ein komplett abgeschlossener Mikrokosmos. Der Einzige, der mal rausgeht, ist vielleicht der Koch, der was zu essen einkauft. Aber dann hast du ja doch einen, der es sich dann vielleicht einfängt, weil er auf dem Edeka-Parkplatz noch mit einem geschnackt hat. Und ein Teilnehmer nimmt es dann mit nach Hause zu seiner Oma, die vielleicht dummerweise noch nicht geimpft ist. Es gibt einfach keine 100%ige Sicherheit. Und wenn wir dafür ursächlich sind, dann weiß ich nicht, ob ich mir das auf die Fahne schreiben möchte, nur weil ich auf Biegen und Brechen etwas machen wollte.

Wir wären mit 70 Kids plus 40 Mann vom Team, also 110 Leute 24 Stunden am Tag zusammen. Da kannst du nicht überall sein und alles überwachen.

Ich halte das Ganze also immer noch für hochriskant. Auch weil es nicht das allgemeine Alltagsrisiko ist. Ich bin sicherlich kein Freund davon, die Kids dauerhaft nicht zur Schule zu schicken und ihnen komplett ihren sozialen Umgang zu verbieten. Aber das Camp ist ja nichts Existenzielles, wie zum Beispiel die Schulbildung. Ob wir es dann wieder digital machen, weiß ich noch nicht. Ich würde aber schon gerne irgendein Angebot schaffen. Aber, ob das vor Ort sein kann, weiß ich nicht.

Seid ihr denn mehr im Freien oder in Räumen?

Enno: Das ist natürlich wetterabhängig. In der Schule werden im Prinzip Räume in Proberäume und Musikstudios umgebaut. In der Schule selber sind dann halbtags die Kids während des Musikprogramms in den Klassenräumen. Die andere Hälfte des Tages haben sie dann Freizeit für Klettergarten und Ähnliches. Oder sie hängen in der Turnhalle rum und werfen Basketballkörbe. Oder sie gehen raus auf die Wiese, nehmen eine Gitarre mit und spielen zusammen. In der Freizeit sind die Kids relativ viel draußen. Während des Musikprogramms sind sie in den Klassenräumen, den Proberäumen oder im Studio.

Wir haben übrigens eine super Betreuung. Wir machen das zusammen mit der Fachhochschule Heide, die eine Koryphäe im touristischen Bereich ist. Wir haben auch immer Studentinnen, die als Bandmanagerinnen arbeiten. Die Kids sind daher sehr gut betreut. Aber am Ende des Tages sind es halt doch gut 100 Leute.

Und da die Zuverlässigkeit der Tests auch noch Fragen aufwirft, gibt es insgesamt zu viele Fragezeichen. Und trotzdem habe ich noch keine abschließende Meinung dazu.

Denkst du, dass Impfungen für Jugendliche hier eine Rolle spielen können?

Enno: Also, ich bin ja auch Bandmanager und das Jahr 2021 habe ich mental schon fast abgehakt. Mit dem Impfen müssen wir mal sehen. Ich weiß auch nicht was kommt. Wir gucken ja auch oftmals in andere Länder, wie zum Beispiel Israel. Beim Metal Battle ist Israel ja auch dabei. Ich habe da eine Gesangsdozentin, die Sängerin bei der Band Scardust ist. Die machen richtig anspruchsvollen Progressive Metal. In Israel haben ja schon über 60% ihre zweite Impfung und selbst die sind noch nicht wieder in der Normalität angekommen. Wenn wir das bei uns mal hochrechnen, wie langsam wir impfen und wo unsere ganzen Schwierigkeiten noch hängen. Die denken ja noch etwas nationaler, während wir EU-mäßiger und sogar weltweiter denken. Wir haben insgesamt sehr viele Probleme und Hürden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dieses Jahr alle durchgeimpft sein werden. Das Überraschungsmoment hat doch sehr zugenommen.

Hast du von deinem Musikverlag oder deinen Bands her eine Planung, was vielleicht noch gehen könnte im Sommer oder in diesem Jahr?

Enno: So wie ich es mitbekommen habe, liegen bisher für die wenigsten Veranstaltungen behördliche Genehmigungen vor. Im letzten Jahr war zum Beispiel das Autokino nicht so angekommen, wie man sich das vorgestellt hat. Erst gab es ein paar Autokinos, dann gab es einen riesigen Run und dann hatte jedes Dorf eines. Dann wurden ein paar auch schon wieder abgebaut. Der Hype war ziemlich schnell vorbei.

Dann gibt es noch diese Strandkorbgeschichten. Aber auch die sind von der Kapazität noch nicht so, dass du mit einer Genehmigung arbeiten könntest. Wenn du dafür jetzt Karten verkaufst, ist das mit einem großen Risiko verbunden. Das Problem ist generell in der nächsten Zeit, dass du relativ geringe Kapazitäten hast und relativ hohe Kosten. Da musst du dir als Band natürlich überlegen, ob du etwas machst, nur damit du etwas machst.

Wenn du mit Equipment und Crew anrollst und mit 1000 Leuten planst und dann kommen nur 300 – wer trägt dann das Risiko? Und die Veranstaltungsstätten lassen sich dieses Risiko natürlich vergüten. Die Autokinos zum Beispiel hatten auch wahnsinnige Mietvorstellungen. Dabei hatten die nicht einmal richtige PAs, sondern nur eine duselige Trailer-Bühne mit einer LED-Wand hingestellt und einen komischen Radio-UKW-Sender, der das alles in die Autoradios ausstrahlte. Das waren teilweise Mieten wie für eine große Halle. Und ob die Leute dieses Jahr solche Lösungen noch annehmen, ist völlig unklar. Das Konsumverhalten ändert sich ja sukzessive.

Die Fragen sind: Was will ich machen? Bin ich bereit für ein Streaming-Konzert Geld auszugeben? Wann kaufe ich mir eine CD? Wann macht der Mediamarkt auf? Für die Branche ist das echt schwierig.

Auch die Regeln sind irgendwie unverständlich. Vier Leute dürfen nicht proben, aber ein Kirchenchor darf singen? Ziemliche Verunsicherung gibt es auch bei den Videodrehs. Die wurden ja auch zu Corona-Zeiten gemacht. Und dann gab es die Vorgaben, dass sich Bands zu beruflichen Zwecken zusammenfinden konnten, wie zum Beispiel für Streaming-Konzerte oder Online-Konzerte. Bei sowas durftest du dann ohne Mundschutz performen. Aber das war auch erst ein halbes Jahr später. Am Anfang durftest du nichts. Da durfte man nicht zusammen proben, auch wenn man sich sonst nebenbei getroffen hat. Aber für den Videodreh galten die privaten Regelungen nicht. Einige hatten dann Angst, weil sie beim Dreh mit anderen Leuten zusammenkamen, die zum Beispiel hinter der Kamera standen. Für uns ist das aber auch eine Art von Erwerb. Und wenn wir wegen irgendwelchen Unklarheiten eine Strafe von 1000 Euro zahlen müssten, dann würden wir das in Kauf nehmen. Der Verlust dadurch, sich ein Jahr lang nicht zu zeigen, ist viel höher als so eine Strafe.

Ich glaube insgesamt nicht, dass dieses Jahr mit Tests das Problem gelöst wird. Ich weiß, dass es ein Elektro-Festival mit etwa 5.000 Leuten geben soll. Die wollen aber jeden Tag das Gelände vollkommen räumen und auf‘s Neue Schnelltests machen. Wie soll das gehen? Das wird nicht funktionieren.

Bist du noch als Kurator für die Wacken Foundation tätig?

Enno: Ja, das Kuratorium sind die Leute, die über die eingehenden Anträge beraten. Die Wacken Foundation ist eine anerkannte Stiftung zur Förderung von Heavy Metal Musik. Jeder der glaubt, dass dieser Förderzweck für ihn zutrifft, kann einen Antrag stellen. Und das Kuratorium berät über diese Anträge. Der Vorstand entscheidet dann darüber, welche Anträge angenommen werden und welche nicht. Das ist sozusagen die Inhaltsschmiede. Der illustre Diskussionskreis.

Beim Music Camp steht ja sehr die Kreativität im Vordergrund. Hast du bei den Anträgen bei der Wacken Foundation mal etwas erlebt, das besonders kreativ war oder vielleicht ein neuer Trend sein könnte?

Enno: Da waren schon Anträge dabei, die nicht ganz alltäglich waren. Alltäglich ist Bandförderung. Produktion im Studio, Videodreh oder Instrumentenkauf. Es gab auch einmal etwas, das fernab davon war. Der Großteil der Anträge betrifft tatsächlich Dinge des täglichen Lebens, wo es viele Defizite gibt, die kompensiert werden müssen.

Ein großes Thema ist zum Beispiel Toursupport. Auch vor Corona gab es schon eine Zeit, wo Live-Spielen schwer geworden ist. Für eine Metalband ist es sehr wichtig, viel auf der Bühne zu stehen und viel live zu spielen. Oder sich vielleicht auch mal mit größeren Bands auf Tour zu verdingen, um sich ein breiteres Publikum zu erarbeiten oder Erfahrung auf so einer Bühne zu sammeln. Das ist ein großer defizitärer Bereich. Plattenfirmen bezahlen ja auch kaum noch etwas für den Support. Und dann hast du ja auch noch die täglichen Kosten auf so einer Tour. Wenn du drei bis fünf Wochen durch Europa unterwegs bist und dann noch im Nightliner schläfst, dann beläuft sich das auf ein paar zig-tausend Euro. Das können wenige Bands selber stemmen. Die Musikindustrie, was immer das auch genau ist, oder Tonträgerauswärter sind kaum noch bereit, da richtig Geld reinzuschieben. Wenn du das als Band erleben willst musst du deine Mäuse zusammenkratzen.

Corona wird aber generell die Karten neu mischen, wie die Stiftung (Wacken Foundation) agieren wird. Solche Leuchtturm-Projekte wie das Wacken Music Camp, das da ansetzt, die Leute abzuholen, die sich für das aktive Musikmachen entscheiden, und Berührungsängste abzubauen, werden sicherlich zunehmen. Die Stiftung wird auch so etwas fördern und nicht mehr nur die klassische Bandförderung machen.

Hast du besondere Erlebnisse mit Metalheads gehabt, die die besondere Einstellung der Metalheads widerspiegeln?

Enno: Ich war ja selber mal Punk-Fan und wurde dann Metal-Fan. Master of Puppets von Metallica war sozusagen meine Erleuchtung, bei der ich dem Punk abgeschworen und mich dem Metal zugewandt habe.

Mein erstes Konzert war in Osnabrück im Haus der Jugend: S.D.I.. Die Band habe ich jetzt im Verlag. Das war mein erstes Konzert und jetzt habe ich Reinhard Kruse bei mir als Autor im Verlag. Ob das jetzt wirtschaftlich toll ist – scheiß egal. Das war echt geil.

Ansonsten ist meine Fan-Attitüde durch die langjährige Arbeit in dem Business in den Hintergrund getreten.

Was mich aber immer wieder begeistert an den Metalheads, ist das friedliche Zusammenleben. Ich bin in Wacken immer wieder davon fasziniert, wie das funktioniert. Als ich vor 14 Jahren in der Produktion und direkt mit der Security zusammengearbeitet habe, habe ich natürlich Vieles mitbekommen. Und das Viele, das du da mitbekommst, ist, dass es relativ wenig ist. Das finde ich immer wieder faszinierend.

Auch wenn du mal unangenehme Sachen auf dem Festival machen musst, wie Campingplatzreservierungen. Man konnte ja als Großgruppe einen Platz reservieren. Das hat aber manchmal aus irgendwelchen Gründen nicht geklappt. Das war  keine sehr angenehme Aufgabe, wenn du den Leuten sagen musstest, dass die Gruppe ihren ganzen Scheiß wieder einpacken muss, weil der Platz reserviert ist. Das war echt nicht schön. Aber es hat in den allerseltensten Fällen dazu geführt, dass jemand aggressiv wurde oder die Kavallerie anrücken musste. Das finde ich sehr beeindruckend.

Ich glaube, das hat viel damit zu tun, dass die Menschen, die nach Wacken kommen, einen gemeinsamen Nenner haben. Egal, wie klein der ist. Und wenn das Metal ist, ist das halt Metal. Ob du nun Death Metal magst, Black Metal oder Power Metal, ist egal. Die Akzeptanz ist Metal und damit ist eigentlich alles gesagt.

Ob du aus dem Libanon kommst oder aus der Türkei, ist auch egal. Ob du Jude bist oder Christ oder an nichts glaubst oder eine Windel auf dem Kopf trägst, ist egal. Der gemeinsame Nenner ist Metal.

Und das ist der große Unterschied zu anderen Bereichen oder Festivals, wo Leute aus verschiedenen Genres zusammenkommen. Wo Alternative, Hip Hop und Rock aufeinandertreffen. Da spielt Eminem bei Rock im Park und zwei Stunden vorher hat Slayer gespielt. Und natürlich sind das verschiedene Fankreise, die diesen kleinsten gemeinsamen Nenner nicht haben. Damit haben die ein wesentlich größeres Aggressionspotenzial als die Gruppen, die diesen Nenner halt haben. Metalheads definieren sich in diesem Augenblick auch nicht als das, was sie normalerweise darstellen müssen. Ob die jetzt Anwalt sind oder Schüler – in dem Moment sind sie einfach nur Metalhead. Soziale Unterschiede sind da nicht mehr sichtbar.

Es gibt ja auch sehr hochpreisige Übernachtungsmöglichkeiten, die ich mir zum Beispiel nicht leisten möchte und auch nicht kann. Dann fragt man sich schon, wer da so lebt. In so einer Gartenhütte für 1000 Euro die Woche. Das sind Leute, die man, wenn man sie zwei Wochen später in ihrem Umfeld sieht, nie in Wacken erwarten würde. Und dann sind die unter ihrem Anzug komplett durchtätowiert. Die fühlen sich wahrscheinlich in ihrem normalen Leben verkleidet.

Es gab mal eine Umfrage und ein Ergebnis daraus war, dass für viele Wackenbesucher die optimale Lebensvorstellung so ist, wie in Wacken, wo es die Sichtbarkeit von sozialen Unterschieden gar nicht so gibt. Da ist es völlig egal ist, wie du rumläufst.

Es gibt auch total selten Anzeigen von Belästigung unter Alkoholeinfluss. Einmal gab es eine Schlägerei, aber die war nicht auf dem Campground, sondern Backstage. Das waren zwei skandinavische Bands, von denen zwei Mitglieder dieselbe Frau interessant fanden. Diese beiden Bandmitglieder haben sich dann im V.I.P.-Bereich verdroschen. Das wäre vielleicht nicht passiert, wenn sie die letzten 30 Bier weggelassen hätten. Aber das war es dann auch.

Natürlich passiert auch mal was und natürlich gibt es auch organisiertes Zeltleerräumen. Auch in Wacken. Das sind aber keine Fans, sondern organisierte Banden. Die nutzen die Friedfertigkeit und Arglosigkeit der Herde aus und treiben da ihr Unwesen.

Ich habe noch eine lustige Geschichte aus der Zeit als ich den Artist Shuttle geleitet hatte. Ich saß da im Bürocontainer und einer stieß die Tür auf und kam einfach rein. Der sagte auf Englisch, dass er gerne zum Hotel möchte, stellte sich aber nicht einmal vor. Dem habe ich dann gesagt, dass ich nicht weiß, wer er ist und wo er hinwill. Ich gab ihm den Tipp, dass er vielleicht noch einmal von vorne anfangen solle. Normalerweise klopft man an und stellt sich erstmal vor. Er ist dann wieder rausgegangen und hat brav angeklopft. Ich habe dann „Herein“ gesagt und er ist reingekommen und hat sich vorgestellt. Er hat sich sogar entschuldigt.

Am nächsten Tag kam der wieder. Er hat ganz brav angeklopft und hat sich dafür bedankt dass alles so gut funktioniert hat. Er erzählte dann, dass er total lange darüber nachgedacht hätte, weil er zunächst total angepisst war, weil er so behandelt wurde. Aber er könne ja nicht davon ausgehen, dass ihn alle kennen, da er ja auf der Bühne geschminkt auftritt. Er hat sich dafür bedankt, weil er durch meine Rüge total viel gelernt hat. Er wollte mir dann zum Dank einen Kaffee oder sowas holen. In den nächsten Tagen kam er tatsächlich jeden Tag vorbei und hat geschaut, ob es mir gut geht.

Das war der Keyboarder einer sehr bekannten Band. Auch gestandene Musiker müssen davon ausgehen, dass sie vielleicht nicht jeder kennt und da nicht nur Fans arbeiten. Und sie müssen sich genauso höflich benehmen, wie sie es selbst erwarten. Die Meisten benehmen sich aber anständig und sind sehr dankbar für das, was sie an Service bekommen. Bei denen, die sich dann mal danebenbenehmen, ist es meist auf die falschen Drogen zurückzuführen. Die Meisten wissen aber schon, dass auch sie ihre Nudeln nur mit Wasser kochen. Ich glaube, dass es im Schlagerbereich wesentlich stressigere Künstler gibt als bei uns.

Ansonsten ist das Arbeitsleben auf dem Wacken Open Air relativ stressig. Wenn du hinter den Kulissen arbeitest, kriegst du den Rest nur peripher mit. Als Artist Shuttle-Dienstleister habe ich zu den besten Zeiten vielleicht einen Auftritt von einer Band gesehen, weil ich ansonsten nur im Container war.

Aber wenn mein Sohn Interesse hätte, mal Festivalerfahrung zu machen, wäre es mir lieber, er würde auf das Wacken Open Air gehen als auf irgendein Techno-Festival. Der größte Konsum auf dem Wacken Open Air ist Bier und nicht irgendwelche Pillen. Das ist schon mal ein Riesenunterschied. Besonders darin, was es mit dir macht.

Wenn du zu viel Bier hast, kippst du halt irgendwann um und kriegst nichts mehr rein, weil dein Magen voll ist. Und danach schläfst du erstmal. Wenn du aber überhaupt nichts mehr merkst, weil du dich mit irgendwelchem Zeug aufputschst, damit du die 48-Stunden-Party genießen kannst, dann ist das schwierig. Geh mal auf die Toilette nach einem Hip-Hop-Konzert. Nach einem Hip-Hop-Konzert ist alles mit Edding vollgesaut. Nach einem Metal-Konzert brauchst du nur neues Klopapier aufhängen. Dabei ist Hip-Hop wesentlich kid-affiner. Ich kenne kaum Leute über 30, die Hip-Hop noch toll finden. Vielleicht ist das wirklich eine Altersfrage. In Wacken hast du ja sehr viele mittelalte und ältere Leute, die zum Teil ihre Kids mitbringen. Mein Sohn würde mich nie fragen, ob ich mit ihm auf ein Hip-Hop-Festival gehen würde. Der würde mit seinen Kumpels hinfahren. Auf dem W:O.A ist Opa dabei, der damals bei Running Wild in der ersten Reihe stand und der Junior mit 16, der auf den neuen Kram steht. Das ist alles denkbar. Im Rock und Metal-Bereich kommt das eher vor.

Viele Metal-Musiker sind in sozialen Berufen aktiv. Wie erlebst du das?

Enno: Es gibt wirklich extrem viele Krankenpfleger, Erzieher oder so, die im Metal unterwegs sind. Auch in den finstersten Trümmerkapellen. Und je sozialer die sind, desto härter ist die Musik, die sie machen oder hören. Heaven Shall Burn zum Beispiel waren mal sehr für die Wacken Foundation engagiert. In Gera haben die in einem Jugendzentrum mit den Kids Musik gemacht. Die haben die Computer da rausgeschmissen und einen Proberaum eingerichtet. Alex (Dietz) und Maik (Weichert) sind dann, wenn sie Zeit hatten, für ein bis zwei Stunden in dieses Jugendzentrum gekommen und haben mit den Kids Mucke gemacht. Die Wacken Foundation hat dieses Projekt unterstützt. Das ist so ein Ansatz, den ich super finde und der sicherlich nachverfolgt werden sollte. Ich finde es klasse, wenn es solche Satelliten-Bands gibt, die in ihrem Bereich die Szene unterstützen. Ob es Musikmachen oder als Ansprechpartner für alles mögliche ist, wenn zum Beispiel eine Band gerade auf dem Sprung ist und jemand mit einem Vertrag angeritten kommt. Sowas kann ja auch tragisch enden und da wäre es gut, wenn es da so eine Art Patenschaft gäbe. Das mit Heaven Shall Burn war damals wirklich eine Supersache.

Heaven Shall Burn sind auch ein gutes Beispiel für die sozialen Berufe. Der Sänger (Marcus Bischoff) ist Pfleger. Maik (Weichert) ist studierter Jurist. Alex Dietz macht zwar auch Musikproduktionen, arbeitet aber auch im Altenpflegeheim. Die machen nicht einen auf Rockstars. Als der Maik studierte, konnten die auch nicht so häufig spielen. Das war für die natürlich eine Notwendigkeit, aber in der Außenwirkung haben sich HSB dadurch total rar gemacht. Das wurde so wahrgenommen, dass HSB nicht überall spielen. Dass sie keine Zeit hatten, wusste aber keiner. Eine Zeit lang hat das dazu geführt, dass die Booker der Ansicht waren, dass es etwas ganz Besonderes sei, wenn sie Heaven Shall Burn bekommen würden, weil sie ja nicht überall spielen würden (lacht).

Wir haben ein paar Schlagwörter und würden dich bitten, zu sagen, was dir spontan dazu einfällt.

Ernährung

Enno: Gewinnt immer mehr an Bedeutung und halte ich für extrem wichtig. Den Ursprung der Ernährung und zu verstehen, dass man etwas dafür tun muss. Beim Wacken Music Camp mussten die Kids in der Küche mithelfen, um zu sehen wie ein Broccoli aussieht oder eine Kartoffel, wenn sie keine Pommes ist. Das Essen anzufassen und davor eine Art Respekt zu entwickeln, durch Kochen. Dass gegenüber der Aussage „Der Scheiß schmeckt mir nicht.“ jemand steht, der kocht oder vielleicht sogar ein Tier, das sterben musste. Diese Erfahrung halte ich für wichtig. Und außerdem heißt es ja: „Nur in einem gesunden Körper lebt ein gesunder Geist.“

Auch für Bands auf Tour ist eine gesunde Ernährung wichtig. Ich selber bin Ausdauersportler. Daher ist sie für mich auch wichtig.

Mein Sohn möchte sich zurzeit gerade sehr vegetarisch ernähren, deswegen kaufen wir ganz wenig Fleisch. Kaufe ich Soja- oder Ei-Produkte, dann lese ich, dass für diese Produkte auch Tiere und der Regenwald sterben müssen, weil das alles ja auch irgendwo angebaut und transportiert wird. Vielleicht ist es dann doch besser das Rind vom Bauern um die Ecke holen? Das löst in mir einen Konflikt aus, den ich für mich selber gar nicht beantworten kann. Ich kann nur versuchen mein Bestes zu geben. Ob das richtig oder falsch ist, weiß ich nicht. Das System ist so komplex, dass man das als Konsument gar nicht nachvollziehen kann.

Wie stehst du zur Massentierhaltung?

Enno: Ich würde eine Ernährung in kleinen Kreisen absolut vorziehen. Ich habe aber kein Vertrauen. Ich habe nicht das Vertrauen, dass das teure Fleisch in der Fleischtheke bei einem Nicht-Discounter eine andere Herkunft hat als das billige bei einem Discounter. Das wäre nur zu lösen, wenn du diese Kette komplett nachvollziehen kannst. Hofhaltung zum Beispiel, wo sogar klar ist, wo der Dünger für den Hof herkommt. Das wäre eine Lösung, die ich persönlich sehr gut fände. Für diese ganzen Siegel fehlt mir aber die Vertrauensbasis. Eine Lösung wäre also, in einem Hofladen zu kaufen, dem ich aber auch vertrauen müsste, was man aber leider auch nicht 100%ig kann. Ob der das Fleisch vielleicht irgendwie dazugekauft hat, weißt du nicht. Und da liegt das Problem. Ich würde mir viel mehr Transparenz, verpflichtende Kennzeichnung und klare Regeln wünschen.

Nachhaltigkeit

Enno: Das ist so ein Totschlagwort. Nachhaltig ist für mich alles, was dauerhaft gut ist. Was dauerhaft gut ist, muss jeder für sich selber entscheiden. Du kannst nur helfen, die Weichen so zu stellen, dass du für dich auf Dauer etwas mitnehmen kannst. Respekt vor der Umwelt. Respekt vor der Arbeitsleistung anderer. Respekt vor der Natur. Für mich ist eher ein respektabler Umgang und das dauerhafte Sammeln von Erfahrungen wichtig, um eigene Schlüsse ziehen zu können. Das ist eine bessere Beschreibung als „nachhaltig“. Eigentlich ist das ein scheiß Wort. Genauso wie „Manager“.

Werte

Enno: Die muss jeder für sich selber definieren. Sie dürfen aber andere nicht verletzen.

Ethik

Enno: Zur Ethik habe ich mittlerweile ein gestörtes Verhältnis, seit die Ethikratskommission über meine Werte entscheidet. Bei der Frage, was ethisch vertretbar ist, ist es wie bei den Werten. Das muss jeder für sich selber definieren, aber es darf den anderen nicht verletzen. Aber ich würde nie eine für alle gültige Ethiknorm formuliert wissen wollen, die verbindlich richtig ist. Das ist in meinen Augen nicht möglich, wenn nicht in Teilen sogar anmaßend. Es gilt Interessenkonflikte abzuwägen ohne Antwort auf die Frage, was richtig oder falsch ist. Das muss jeder in der Tat für sich selber entscheiden.

Wacken

Enno: Ein Kaff in Steinburg

Schwarz

Enno: Schwarz ist das neue Pink. Ich sage ja immer: Die Farbe ist egal. Hauptsache Schwarz (lacht).

Toleranz

Enno: Ist wichtig. Jeder möchte ja toleriert werden für das, was er gerade tut. Immer unter dem Vorbehalt, die anderen Grenzen nicht zu überschreiten und zu verletzen. Die Toleranz, die jeder für sich selbst erwartet, muss er auch anderen entgegenbringen. Das fängt ja im Kleinsten schon an. Toleranz meinen Nachbarn gegenüber. Toleranz in politischen Meinungen – außer sie sind extrem. Man muss heute häufig ganz klar definieren, in welchem Lager man steht, ohne vielleicht mal eine tolerante Diskussion im Mittelfeld führen zu können. Was ich sehr, sehr schade finde. Weil es nicht mehr um einen Meinungsaustausch geht, sondern um Definition von einem bestimmten Zugehörigkeitslager. Und das ist in meinen Augen falsch. Toleranz ist das, woran wir alle wieder ein bisschen arbeiten müssen.

Alter

Enno: Das ist ein ungeliebtes Thema. Manche Sachen werden mit dem Alter mit Sicherheit leichter. Man wird hoffentlich auch ein bisschen gelassener. Aber der Alterungsprozess des Körpers ist ein totales Arschloch.

Finanzen

Enno: Wenn man Finanzaufsicht für andere macht, ist es wichtig, gut strukturiert zu sein. Es ist Definitionssache, wie wichtig einem das ist. Für mich persönlich ist es nicht so wichtig. Ich würde gerne gut klarkommen, aber nicht um jeden Preis. Zeit für Kinder und Sport ist mir wichtiger als der nächste große Scheck.

Umweltschutz

Enno: Ist eine wichtige Sache. Die Frage ist nur: wie. Ich glaube, dass da viele gerne etwas machen würden, dass es aber eine sehr große Verunsicherung darüber gibt, was der richtige Weg ist. Es gibt da eine sehr starke Auseinandersetzung von Interessen. Ich persönlich glaube zum Beispiel, dass ein Elektroauto nicht sonderlich viel umweltfreundlicher ist, wenn man sich den Herstellungsprozess des Akkus mal anguckt und unter welchen Bedingungen irgendwelche seltenen Erden abgebaut werden. Das E-Auto dann als die zukunftsträchtige Mobilität zu betrachten, halte ich für verkehrt.

Ich weiß es aber auch nicht. Vielleicht ist das auch nur ein Übergangsprozess zur absolut umweltverträglichen Version. Ich selber fahre ein sehr altes Auto. Der verbraucht zwar relativ viel, aber ich glaube, dass der in seiner Gesamt-CO2-Emission wesentlich besser dasteht als ein neues Auto, das nach 140.000 Kilometern den Geist aufgibt oder gar ein Elektroauto. Es ist ja nicht nur damit getan, da Sonnenenergie reinzutanken, sondern es muss ja auch irgendwie alles hergestellt und wieder entsorgt werden. Ich glaube nicht, dass diese Kette umweltverträglicher ist. Früher hat man Sachen gebaut, die sehr lange gehalten haben. Und ich glaube, dass in der Gesamtbetrachtung des CO2-Stempels diese Dinge nachhaltiger waren, als ein schnelles Konsumgut.

Wenn also jeder bei sich anfängt und mit absoluter Klarheit wüsste, was er beitragen kann, wäre vieles einfacher.

Gemeinschaft / Zusammenhalt

Enno: Wichtig, aber auch nicht um jeden Preis.

Gesellschaftliche Verantwortung

Enno: Das ist ähnlich wie beim Umweltschutz. Wenn jeder seinen kleinen Teil dazu beiträgt und in seinem Bereich tut, was er kann, dann ist für das große Ganze mehr gemacht, als wenn er versucht, das große, globale Problem direkt anzupacken. Ich glaube, dass die Leute, die versuchen, die globale Lösung zu formulieren, eher daran scheitern als diejenigen, die in ihrem Umfeld etwas dazu beitragen und damit das Leben in ihrem kleinen Mikrokosmos besser machen. Ob das bedeutet Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr zu sein oder Trainer im Fußballverein. Oder ob das die Bereitstellung von Angeboten der kreativen oder musikalischen Auslebungsform ist – die kleinen Dinge können auch einen guten Effekt haben.

Familie

Enno: Das wichtigste – ohne Kompromisse.

Was denkst du, kann die Gesellschaft von den Metalheads lernen?

Enno: Ich tu mir total schwer mit den ultimativen Tipps für irgendwas. Die sollte es meiner Meinung nach auch nicht geben. Am Ende ist das, was wir machen ja nicht dazu da, das globale Irgendwas zu verbessern, sondern dafür, Angebote zu formulieren und etwas anzubieten wo wir Defizite sehen. Aber wir Metalheads sind grundsätzlich sehr tolerant. Ich glaube, dass Toleranz, solange sie nicht die Grenzen des anderen verletzt, ein gutes Modell wäre. Wobei es ja schon Auslegungssache ist, wann man sich verletzt fühlen darf und wann nicht. Dass jeder so leben kann und sich niemand gestört fühlt, das ist etwas, das die Metalheads ganz gut draufhaben.

Das hat man ja auch gut gesehen, als Lordi beim Eurovision Songcontest gewonnen haben. Da waren die Grenzen vollkommen egal. Da hat eine Band mitgemacht, die aus dem Genre kommt und hat gewonnen, nur weil die Metalheads das so wollten. Punkt.

Diese Kraft der Community ist eine Supersache. Und ich glaube, dass es mehr darauf ankommt, dass man versucht den vernünftigen Ausgleich zu finden oder zu sagen, solange mich das nicht stört, was der andere macht, ist doch alles irgendwie gut. Und wenn es anfängt mich zu stören, muss man vielleicht mal vernünftig drüber reden und dann wird man irgendwo den Kompromiss finden. Dabei ist es aber egal, wo der andere herkommt oder ob er mit einem Schwimmring über den Acker läuft. Es kommt eher darauf an, ob er mein persönliches Umfeld affektiert und wie ich das gegebenenfalls lösen kann.

Toleranz dem anderen gegenüber und natürlich auch Toleranz mir gegenüber. Ich mag den Bekehrenden nicht, der mir immer sagt, woran ich glauben muss. Nur weil ich bei Edeka mein Fleisch einkaufe und nicht bei Aldi, bin ich kein besserer Mensch. Ich möchte nicht, dass ich wegen so etwas verurteilt werde und ich verurteile auch niemanden.

Ich glaube auch, dass sich Metalheads untereinander mehr vertrauen. Das ist auch auf dem Slayer-Album Live Undead zu hören. Da gibt es brutales Geknüppel und dann sagt der Tom Arraya irgendwann: Passt mal auf Freunde. Wenn ihr seht, dass irgendjemand zu Boden geht, dann helft ihm auf. Und dann kommt das nächste totale Geknüppel. Und es ist genau so. Vertrauen ist extrem wichtig.

Wobei Vertrauen in der Komplexität schon sehr schwer ist. Können wir zum Beispiel gerade unseren Krisenmanagern vertrauen, dass sie vernünftig mit der Krise umgehen? Für uns, für Europa, für die Weltgemeinschaft? Kann ich der Herkunft meines Fleisches vertrauen? Da strebt jeder nach seiner persönlichen Bereicherung ­ – ob es jetzt Geld, politische Macht oder irgendein Amt ist. Es fehlt vielleicht ein bisschen der globalere Ansatz: Ich bin nicht hier um irgendein Amt zu bekleiden oder Geld zu verdienen, sondern ich möchte bei dem, was ich mache, vertrauen können. Dadurch wäre vieles einfacher.

Ich habe ja einen Musikverlag. Wenn jetzt irgendjemand reinkommt und ein völlig falsches Bild davon gehabt hat, was wir hier so machen, und geglaubt hat, wir seien die Zauberer von Oz; wenn der mich anpöbelt, warum er nicht für 400 Konzerte im Jahr gebucht wird, dann nehme ich den Vertrag aus dem Regal und zerreiße ihn. Dann melde ich die Titel bei der Gema ab und wünsche ihm eine gute Reise. Wenn der Autor mir nicht vertraut oder meint, er könne alles besser, dann muss er gehen. Dann zwinge ich ihn nicht zu bleiben. Das möchte ich gar nicht, auch wenn ich einen Vertrag habe. Und ob ich dann 35 Cent im Jahr mehr verdiene, ist mir echt egal. Und wie gesagt, wenn ich mein Fleisch kaufe, würde ich dieses Vertrauen auch gerne spüren.

Vielen Dank, Enno, für das tolle Interview

YouTube-Video zum Wacken Music Camp 2019:


YouTube-Video zum Abschlusskonzert 2019: Defenestration – Find Me

WACKEN – das perfekte Paralleluniversum: Was die Gesellschaft von Metalheads lernen kann„, unser Buch über die Liebenswürdigkeit der Metalheads und den sozialen Aspekt der Metalszene, könnt ihr überall im Buchhandel oder signiert über info@metalogy.de bestellen.

 

Lydia Dr. Polwin-Plass

Promovierte Journalistin und Texterin, spezialisiert auf die Themen Kultur, Wirtschaft, Marketing, Vertrieb, Bildung, Karriere, Arbeitsmarkt, Naturheilkunde und Alternativmedizin. Mehr über Dr. Lydia Polwin-Plass auf ihrer Website: http://www.text-und-journalismus.de