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Dream Theater – A View from the Top of the World Dream Theater – A View from the Top of the World
2021 melden sich die Prog-Titanen Dream Theater zurück und wollen natürlich wieder hoch hinaus. Sie grüßen von der Spitze und gewähren uns mit ihrem... Dream Theater – A View from the Top of the World

2021 melden sich die Prog-Titanen Dream Theater zurück und wollen natürlich wieder hoch hinaus. Sie grüßen von der Spitze und gewähren uns mit ihrem Albumtitel einen Blick […] from the Top of the World. Dazu verhüllen sie sich wieder mit einem Front-Cover von Hugh Syme, das uns nach Norwegen auf das Kjerag-Plateau entführt. Highlight des beliebten Ausflugsziels ist der steinerne Monolith Kjeragbolten, der ca. einen Kilometer über dem lokalen See im wuchtigen Bergmassiv klemmt. Na bumm! Der ohnehin schon sehr bekannte Felsen, an dem die Touris für Schnappschuss und kurzen Ausblick Schlange stehen, wird nun wohl auch zur Pilgerstätte der treuen Fans. Ich sehe schon die Selfieparade von darauf Platz nehmenden Leuten mit dem Album in der Hand im Netz kursieren. Womöglich ein Grund mehr Dream Theaters „Fünfzehnte“ als physischen Tonträger zu erwerben.

Aber was verbirgt sich hinter der Verpackung dieses 70-minütigen Werks? Erstmal eine weitere, nämlich die des Soundgewands. Es ist maßgeschneidert wie noch nie, umwerfend kompakt und gewissermaßen eine zweite Haut für das gesamte Bandgefüge. Mixing und Mastering von Andy Sneap verleihen der Produktion extreme Fasslichkeit, die uns die Audioinformation nicht bloß auf einem Silbertablett serviert, sondern uns dieses selbst um die Ohren knallt. Das ist nicht selbstverständlich, aber auch eine Frage des Geschmacks. Jedoch klingt alles in dieser Produktion ganz natürlich, homogen und ausgewogen. Ich will fast meinen, hier wurde eine neue Form von Perfektion erreicht, was auch das erstmalige Produzieren im hauseigenen Studio der Dream Theater Headquarters erklären könnte, wo John Petrucci als Produzent fungiert.

Des Weiteren entfalten sich hier sieben Songs, die sich als Realität gewordene Science-Fiction interpretieren lassen. Dream Theater sind halbe Cyborgs und gebrauchen ihre Instrumente als Körper-Extensionen. Damit handeln sie allerdings nicht nur im Sinn der reinen Kunst (man spielt doch nicht Metal ausschließlich wegen der „Poeme“), sind aber auch nicht so technokratisch unterwegs wie in etwa Fear Factory oder Jet-Piloten. Klar, sie sind Maschinisten, Ingenieure, Steuermänner, aber sie navigieren durch eine Zwischenwelt. Die virtuellen Realitäten ihrer neuen Videos veranschaulichen das. Beispielsweise erzählen die Bilder vom Opener The Alien von den technischen Errungenschaften im Bereich der Medizin und Raumfahrt, vom psychedelischen Trip einer Space-Odyssey zu fremden Planeten und dem überwältigenden Gefühl bei der dortigen Ankunft. Und genau das vermittelt ihre Musik schon seit jeher: Einen komplexen, aber sehr kontrollierten Bewusstseinsstrom, den sie gemeinsam erschaffen um in höchster Präzision und voller Spielfreude darauf zu surfen. Um das große Staunen noch zu toppen, treiben sie es an vereinzelten Punkten so weit auf die Spitze, dass in überbordendem Maße die Herzen überlaufen und die Gänsehaut sprießt. Das klingt kitschig und ist es zuweilen auch – allerdings nur in einem Denken der Be- und Verurteilungen, welches man getrost hinter sich lassen könnte.

Was widerfährt uns beim Anhören dieser neuen Songs? Worte greifen viel zu kurz, aber ich will es hier versuchen. Es sind tongewaltige, treibende und schneisenschneidende Progressionen in einer kurzweiligen Frische, die ihresgleichen sucht. Es sprudelt nur so aus den Boxen. Jedes Bandmitglied präsentiert sich kompositorisch, spiel- und soundtechnisch von seiner besten Seite und gemeinsam brauen diese fünf Druiden einen Zaubertrank mit besonders starkem Aroma, der seine Wirkung nicht verfehlt. Man könnte Bäume ausreißen und Rollsteine bewegen nach dieser Konsumation. Das Rezept ist dermaßen wohldosiert, dass es keinen Tropfen zu viel des Guten gibt. Nichts wird verschenkt oder verschwendet. Kein Takt- und Akkordwechsel ist zu verstörend, keine Hallfahne zu lang, kein Delay zu aufdringlich – alles ausgeklügelt und im Sinne der Songs und des Gesamtklangbildes. Gleichzeitig versteckt sich niemand hinter dieser wuchtigen Wall of Sound. Alles bleibt transparent. Die Riffs fetzen, die Melodien triefen, der Bass ist drahtig und die Drums donnern, während Klangvielfalt und Abwechslungsreichtum wohl einem der größten Rock-Keyboarder unserer Zeit zu verdanken sind. Jordan Rudess greift in die Vollen und zaubert mit anregend knackigen Sounds die typische Atmosphäre auf diese Theaterbühne. Nicht nur, dass er modernes Sounddesign erzeugt und seine orchestralen Streicher und ein besonders farbiges Piano bespielt, auch fegt er des Öfteren mit distortion-knarzigem Hammondsound über alles andere hinweg. Seine obligate Slapstick-Einlage findet ebenfalls ihren Platz.

Mit einem dunkelwarmen, aber dennoch kristallinen Gitarrensound verflüssigt sich John Petrucci in den unendlichen Weiten um zwischendurch schwerste Akkordmonolithen in diesen Cyberspace zu schleudern. Aus so manchem Riff schält er Melodien heraus, spinnt diese weiter oder führt sie mit Jordan im Unisono fort. Danach wird geshreddert was das Zeug hält. Demgegenüber ist sein Sound in cleanem Spielbetrieb als elegant und edel zu bezeichnen. Dass „heavtige“ Architektur so luftig sein kann, gibt Rätsel auf. Aber natürlich ist der komplette Auftrieb der Rhythmussektion mit Bassist John Myung und Drummer Mike Mangini geschuldet. Die beiden bilden das pochende Herz und den rotierenden Motor – wobei Triebwerk es noch besser trifft. Wer sich in den von ihnen erzeugten Strudel begibt, wird zwangsweise mitgesogen. Und sowieso verleiht Mike dem Begriff Drum-Roll quasi eine neue Bedeutung.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich keine Ballade auf dem Album befindet. Das ist ungewöhnlich, aber folgerichtig, denn dieser Höhenflug darf nicht gebremst werden. Schließlich hat man nach sechs Songs von „normaler“ Länge noch den cineastischen Titeltrack mit über 20 Minuten zu erklimmen. Dieser schwebt ja bereits als Hallelujah-Felsen in höchsten Höhen am Himmel von Pandora (das Cover-Sujet sei hier vergleichend noch einmal erwähnt) und wartet mit dem großen dreiteiligen Finale auf. Episch, pink-floydisch, proggy und … bitte: Spielt Jordan diesen Cello-Part? Mit den Native Instruments? Auch zur Vienna Symphonic Library hätte er Verbindungen. Aber ich kann es nur vermuten, denn es finden sich keine Gastmusiker_innen in den Liner Notes. Man könnte jedoch meinen, es wäre so jemand wie Yo-Yo Ma.

Bleibt noch Stimme und Gesang von James LaBrie zu erwähnen. Wie immer liefert er Melodisches, das sich gekonnt inszeniert und elastisch in die Gehörgänge schmiegt. Seine Gesangslinien sind eingängig und allesamt sehr stark, doch auf aggressive Vocals trifft man nicht. Interessant auch wieder so manche ungewohnten Intervallsprünge, die sich aufgrund der für Dream Theater typischen Akkordfortschreitungen ergeben. Diverse Effekte unterstützen den Flow – sei es in sparsamer Funkspruch- oder Megaphon-Ästhetik oder mit dem ansprechenden Echo seiner selbst. Sie binden das Erzählte auf angenehme Weise in die Theatralik ein. Hymnisch gebärden sich natürlich die Refrains. Manchmal gedoppelt, mehrstimmig und mit sich selbst im Chor zelebriert der Rock-Tenor jeden Song mit großer Geste.

Um die alte Floskel zu bemühen: Das hier ist großes Kino, das die Stereo-Bühne zwischen unseren Ohren bestens bedient. Der holistische Blick vom Gipfel, wo Metallisches, Rockiges und Progressives kunstvoll miteinander vermengt werden, treibt gleichermaßen den Adrenalinspiegel in die Höhe. Ein schwindelerregendes „Bühnenbild“ war für Dream Theater ja immer schon stilprägend und dieser technosensuale Stil, den sie über Jahrzehnte definiert und kultiviert haben, findet in seiner Entwicklung auf A View from the Top of the World seine ikonische Fortsetzung. Es ist faszinierend zu sehen, wie sich diese aus fünf Individualisten erzeugte Klangmasse immer weiter zu einem einzigen wabernden Organ formiert.

– Christian Tschinkel

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Dream Theater:

James LaBrie – vocals

John Petrucci – guitar
Jordan Rudess – keyboards
John Myung – bass
Mike Mangini – drums
 

Tracklist:

01. The Alien
02. Answering the Call
03. Invisible Monster
04. Sleeping Giant
05. Transcending Time

06. Awaken the Master
07. A View from the Top of the World

 

YouTube-Links:

The Alien (Official Video)
https://www.youtube.com/watch?v=V462IsOV3js

Invisible Monster (Official Video)
https://www.youtube.com/watch?v=s0Wmg7Tq4Pk

 

 

 

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