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Minority Report? – Mathematische Algorithmen berechnen soziales Verhalten Minority Report? – Mathematische Algorithmen berechnen soziales Verhalten
Modelle zur Vorhersage und Beeinflussung des Verhaltens von Gruppen? Mathematische Algorithmen berechnen soziales Verhalten? Lange Zeit galt die mathematische Modellierung sozialer Systeme und Dynamiken... Minority Report? – Mathematische Algorithmen berechnen soziales Verhalten

Modelle zur Vorhersage und Beeinflussung des Verhaltens von Gruppen? Mathematische Algorithmen berechnen soziales Verhalten? Lange Zeit galt die mathematische Modellierung sozialer Systeme und Dynamiken als Science Fiction. Doch menschliches Verhalten berechnen und damit beeinflussen zu können, ist auf dem besten Weg Realität zu werden.

Wissenschaftler der Technischen Universität München (TUM) entwickeln gerade die passenden Werkzeuge für eine Vorhersage und eine darauf basierende Beeinflussung des Verhaltens von Gruppen. Mit ihnen lassen sich Szenarien berechnen. Zweck: die Sicherheit bei Großveranstaltungen zu erhöhen oder Evakuierungen effizienter zu gestalten.

Forschung mit dem Ziel, das Verhalten von Gruppen vorherzusagen und darauf Einfluss nehmen zu können, hat eine lange Tradition. Doch nicht zuletzt wegen der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen dem physischen, dem emotionalen, dem kognitiven und dem sozialen Bereich erscheint es praktisch unmöglich, das Verhalten eines Individuums präzise zu prognostizieren.

Musterbildung1, Foto: Andreas Battenberg / TUM

Musterbildung1, Foto: Andreas Battenberg / TUM

Anders sieht die Sache aus, wenn Menschen im Straßenverkehr, in sozialen Netzwerken oder auf Großveranstaltungen nicht als Individuen erscheinen, sondern als Teile einer Menschenmenge auftreten. „Als Masse verhalten sich Menschen durchaus ähnlich wie Teilchen von Flüssigkeiten oder Gasen“, erläutert Professor Massimo Fornasier, Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Numerische Analysis der TU München.

In der Physik zum Beispiel muss man nicht die genauen Eigenschaften jedes einzelnen Teilchens kennen, um die Bewegungsrichtung großer Mengen von Gasmolekülen mit hoher Wahrscheinlichkeit berechnen zu können. Es genügt doe Kenntnis  ihrer durchschnittlichen Eigenschaften.

Genau so können wir bei der Betrachtung strömender Menschenmassen, Schwärmen von Tieren oder interagierender Roboter vorgehen: Analog zu den Anziehungskräften zwischen Molekülen eines Gases können wir generalisierte Verhaltensmuster als wechselseitige Kräfte zwischen einzelnen Agenten beschreiben und sie so in mathematischen Gleichungen abbilden“, beschreibt Fornasier seine Vorgehensweise.

Die Berechnung kollektiver Verhaltensmuster und der berühmte „Herdentrieb“

Professor Fornasier und sein Team bewiesen unlängst mathematische Gesetzmäßigkeiten die zeigen, wie überraschend einfach es ist, auf der Grundlage beobachteter Daten über die Dynamik präzise mathematische Modelle für bestimmte relativ einfache Gruppeninteraktionen automatisch zu produzieren.

Musterbildung3, Foto: Andreas Battenberg / TUM

Musterbildung3, Foto: Andreas Battenberg / TUM

Mithilfe von Computersimulationen können die Mathematiker damit mögliche kollektive Verhaltensmuster einer großen Anzahl sich wechselseitig beeinflussender Individuen in einer aktuellen Situation beschreiben. „Im nächsten Schritt können wir damit auch Vorhersagen über künftiges Verhalten treffen“, sagt Fornasier. „Und wenn wir das Verhalten einer Gruppe interagierender Agenten vorausberechnen können, ist es nur noch ein kleiner Schritt sie auch steuern zu können.“

In einem Experiment, das sie im Mai 2015 in Zusammenarbeit mit dem Consiglio Nazionale delle Ricerche (CNR) and the University of Rome „La Sapienza” in Italien durchführten, zeigten Fornasier und sein Team, dass das Verfahren sich tatsächlich dazu eignet, das Verhalten von Gruppen zu beeinflussen.

Das Experiment

Für das Experiment hatten die Forscher zwei Gruppen von etwa 40 Studierenden damit beauftragt, ein bestimmtes Ziel in einem Gebäude zu suchen. In die eine Gruppe schleusten die Wissenschaftler zwei informierte Agenten ein, die sich jedoch nicht zu erkennen geben durften. Alleine dadurch, dass diese zielstrebig in eine vorgegebene Richtung gingen, brachten sie die Gruppe in Bewegung auf dasselbe Ziel.

Wir kennen das alle aus dem Alltag: Rennt einer bei Rot über die Kreuzung tun es meist alle.

Dieser Versuch zeigt, dass die Übernahme der Kontrolle in selbstorganisierenden Systemen, zu denen auch Gruppen von Individuen gehören, mit überraschend geringem Aufwand möglich ist. Die Mathematiker belegten darüber hinaus, dass die Ergebnisse auch für sehr große Gruppen gelten. „Tatsächlich reichen zwei bis drei solcher Agenten pro hundert Menschen aus“, sagt Massimo Fornasier.

Meinungsbildung mit der Hütehunde-Strategie

Da seine mathematischen Modelle in einer völlig abstrakten Umgebung formuliert sind, können sie leicht an verschiedene Situationen angepasst werden. Mit ihnen lassen sich effiziente Möglichkeiten finden, große Besuchermengen stressfrei durch Gebäude zu leiten oder Menschen aus gefährlichen Situationen zu evakuieren.

Wir können unsere Ergebnisse aber auch auf andere interessante gesellschaftliche Bereiche übertragen, beispielsweise auf das Verhalten von Investoren auf den Finanzmärkten“, so Fornasier. „Dort können durch genau abgestimmte Aktivitäten großer Investoren erhebliche Marktbewegungen ausgelöst werden.“

Auch die Meinungsbildung einer Gruppe basiert auf gegenseitiger Interaktion von Menschen. In ihren Modellen zeigten die Mathematiker, dass es am effektivsten ist, sich auf die radikalsten Vertreter einer Auffassung zu konzentrieren. Gelingt es, diese zu überzeugen, zieht die Gruppe mit.

Dafür gibt es auch ein schönes Modell in der Natur“, so Fornasier. „Um eine Schafherde in die gewünschte Richtung zu treiben, konzentrieren sich gute Hütehunde immer auf das von der Herde am weitesten entfernte Tier. Indem sie das sturste Schaf einfangen, kommen sie zum Ziel.“

Auch die beste Vorhersage

Bei allen denkbar positiven Anwendungsmöglichkeiten stellt sich natürlich auch die Frage des Missbrauchs“, sagt Professor Fornasier. „Die gute Nachricht in diesem Zusammenhang ist, dass wir auch bewiesen haben, dass das Verhalten nicht für alle Typen von Dynamik und nicht in allen Situationen so leicht vorhauszusagen ist.“

Eine wichtige Voraussetzung der Berechenbarkeit ist es, dass die enorme Vielzahl der möglichen Wechselwirkungen von Agenten in einer großen Gruppe sinnvoll auf wenige wirksame reduziert werden kann“, so Fornasier.“ Gut funktioniert die Vorhersage dort, wo eine Gruppe generalisierte Verhaltensmuster zeigt.“

Ist jedoch bei konkurrierenden Wechselwirkungskräften die Energie einzelner Agenten zu groß ist, kann das Gleichgewicht und damit eine gemeinsame Bewegung der Agentengruppe mit einfachen, sporadischen Kontrolleingriffen nicht mehr hergestellt werden.

Eine umfassende Voraussage von Ereignissen, wie sie beispielsweise dem Mathematiker Hari Seldon in Isaac Asimovs Foundation Zyklus möglich ist oder eine so umfassende Kontrolle wie in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, wird auch weiter Science Fiction bleiben“, beruhigt uns Professor Fornasier.

Web: www.tum.de

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Die Ergebnisse wurden im Juli 2016 auf dem Europäischen Mathematiker Kongress in Berlin vorgestellt. Die Forschungsarbeit wurde vom European Research Council (ERC) im Rahmen des ERC-Start Grant-Projektes „High-Dimensional Sparse Optimal Control“ (HDSPCONTR) gefördert. Neben Mitgliedern der Fornasier-Gruppe waren zahlreiche weitere Forscher an der TUM und kooperierenden internationalen Institutionen beteiligt [in alphabetischer Reihenfolge]: Dr. Giacomo Albi (TUM), Dr. Mattia Bongini (TUM), Dr. Marco Caponigro (Conservatoire National des Arts et Métiers, Paris), Dr. Emiliano Cristiani (Consiglio Nazionale delle Ricerche (CNR), IAC, Rom), Dr. Markus Hansen (TUM), Dr. Dante Kalise (Johann Radon Institut, ÖAW, Linz), Prof. Mauro Maggioni (Johns Hopkins University, Baltimore, USA), Prof. Dr. Benedetto Piccoli (Rutgers University, Camden, USA), Dr. Francesco Rossi (Aix-Marseille Université, Marseille), Dr. Francesco Solombrino (TUM), Prof. Dr. Emmanuel Trélat (Université Pierre et Marie Curie (Paris 6), Paris).

Publikationen:

M. Fornasier; Learning and sparse control of multiagent systems. In: Proceedings of the 7th European Congress of Mathematics, 2016 (im Druck)

https://www-m15.ma.tum.de/foswiki/pub/M15/Allgemeines/PublicationsEN/Massimo_Fornasier_proc_7thECM_c…

M. Bongini, M. Fornasier, M. Hansen and M. Maggioni. Inferring Interaction Rules from Observations of Evolutive Systems I: The Variational Approach; arXiv:1602.00342v2 [math.DS] 16 Feb 2016

https://www-m15.ma.tum.de/foswiki/pub/M15/Allgemeines/PublicationsEN/BFHM16.pdf

M. Caponigro, M. Fornasier, B. Piccoli and E. Trélat. Sparse stabilization and control of alignment models, Mathematical Models and Methods in Applied Sciences, 25(03):521-564, 2015

https://www-m15.ma.tum.de/foswiki/pub/M15/Allgemeines/PublicationsEN/flocking_V9.pdf

M. Fornasier and F. Solombrino. Mean-field optimal control, ESAIM Control Optim. Calc. Var., 20(4):1123-1152, 2014

https://www-m15.ma.tum.de/foswiki/pub/M15/Allgemeines/PublicationsEN/arxiv.pdf

Lydia Dr. Polwin-Plass

Promovierte Journalistin und Texterin, spezialisiert auf die Themen Kultur, Wirtschaft, Marketing, Vertrieb, Bildung, Karriere, Arbeitsmarkt, Naturheilkunde und Alternativmedizin. Mehr über Dr. Lydia Polwin-Plass auf ihrer Website: http://www.text-und-journalismus.de